Barbi Marković 15.–19.02.2021

KALT

Frau

Ich bin nur aufge­s­tanden, um auf die Toi­lette zu gehen, aber dann habe ich zu viel Licht in die Augen bekom­men, ein Prob­lem von gestern hat begonnen, mich zu pla­gen, und seit­dem bin ich wach. Der Tag hat für die Ner­ven schlecht begonnen. Ich werde einen Kaf­fee machen, etwas Mildes früh­stück­en und hin­aus­ge­hen in die Kälte. 

Auf der Straße laufen mehrere Jog­gerin­nen und Jog­ger an mir vor­bei in pro­fes­sioneller Funk­tion­sklei­dung. Über­all, wo ich hin­schaue, in den Innen­höfen und in den kleinen Parks, macht jemand Jump­ing Jacks oder Kniebeu­gen. Ein Mäd­chen führt sein jün­geres Geschwis­terkind an der Leine. Lei­der stolpert mein Herz bei der Bushal­testelle und ich hoffe, dass das psy­chisch ist. Während wir auf die Straßen­bahn warten, hal­ten sich einige an der Brust in Herzhöhe oder atmen auf­fäl­lig tief, und dann erblasst im 13A noch der Pas­sagi­er mir gegenüber und taumelt aus dem Bus. So viele See­len schwächeln und reißen die Kör­p­er mit sich. 

Ich muss an den Som­mer denken und an die Frauen vom Son­nen­bad des Ottakringer Bads, die mich gewarnt haben, als ich ein­mal direkt auf dem Rasen gele­gen bin.

„Steh auf!“, haben sie gesagt. 

Ich wollte höflich sein: „Danke, mir ist noch nicht kalt.“

Sie haben sich dann von ihren gepol­sterten Plas­tik­liegen erhoben, haben zu mir hin­un­tergeschaut und gesagt:

Wenn du merkst, dass dir kalt ist, ist es schon zu spät!“

TÄGLICH GRÜßT DAS ZIESEL 

Vor einem Jahr …

Eine Anfrage ist gekom­men: Ich soll ein Video machen für die Online­plat­tform ein­er Insti­tu­tion, bei der alles abge­sagt wurde. Ich kann ein­fach etwas vor­lesen oder über die neue unge­wohnte Sit­u­a­tion sprechen, in der wir uns befind­en. Wie es mir darin geht, ob es sich noch lohnt, die Zähne zu putzen, ob ich dauernd aufräume. Ich sage okay und gehe in mein Zim­mer. Ein paar Minuten später habe ich das Video fer­tig: „Voila!“

Der näch­ste Tag …

Ich soll ein Video machen für ein Fes­ti­val, anstatt hinz­u­fahren. Wieder kann ich etwas vor­lesen oder über diese Sit­u­a­tion sprechen, wie es mir geht, ob ich mit meinem Fre­und stre­ite, ob ich Sauerteig schon ange­set­zt und Möbel gekauft habe. Ob ich eine schlimme Block­ade erfahre und inzwis­chen Alko­ho­lik­erin bin. Ich sage okay und gehe in meine Zim­mer und komme nach ein­er Minute wieder raus. Das Video ist gemacht.

Einen Monat später …

Jet­zt soll ich noch ein Video machen, es muss nicht lang sein, nur 2 Minuten, gerne vom eige­nen Handy, etwas Neues, über diese ganze Sit­u­a­tion, was das für mich bedeutet. Den­jeni­gen, die das Video bestellt haben, ist egal, was ich erzäh­le. Es kann ein Kom­men­tar sein oder Gedicht darüber, ob ich inzwis­chen auf alle Fre­und­schaften geschissen habe, ob ich aufge­hört habe zu trinken und stattdessen jogge oder umgekehrt. Ich sage okay und gehe in mein Zim­mer. Nach zwanzig Sekun­den komme ich wieder raus und klatsche in die Hände: „Bin fertig!“

Vor zwei Monaten …

Wie gewohnt han­delt es sich um ein Video, nur ein paar Minuten, und über diese ganze Sit­u­a­tion, und darüber, was es mit uns macht. Was in der Zukun­ft sein wird. Ob ich dazukomme, etwas zu schreiben. Ob ich psy­chisch schon am Ende bin und verzweifelt in ein­er Ecke sitze mit Essstörun­gen beziehungsweise wie ich abstürze. Ob der Früh­ling jemals kom­men wird und ob ich den Win­ter über­leben werde. Zehn Sekun­den später ist das Video da. 

Vor ein­er Woche …

Ich soll ein­fach ein kurzes Video schick­en. Wie sich diese neue Sit­u­a­tion auf unseren All­t­ag auswirkt, wie mein Wohnz­im­mer aussieht, noch bess­er wäre ein Ein­blick in mein Schlafz­im­mer oder meinen Müll­sack. Ob ich über­haupt zum Schreiben komme oder ob das jet­zt nicht mehr geht, weil es kein Leben gibt und die Hirne im Gefäng­nis sitzen. Ob jemand aus mein­er Fam­i­lie den Virus schon hat­te und daran gestor­ben ist oder eh nie­mand.  Ob ich über­haupt eine Fam­i­lie habe. Wie es der Kul­tur geht. „Es geht“, sage ich, und schicke das Video.

Einen Monat später …

Jet­zt soll ich noch ein Video machen, es muss nicht lang sein, nur 2 Minuten, gerne vom eige­nen Handy, etwas Neues, über diese ganze Sit­u­a­tion, was das für mich bedeutet. Den­jeni­gen, die das Video bestellt haben, ist egal, was ich erzäh­le. Es kann ein Kom­men­tar sein oder Gedicht darüber, ob ich inzwis­chen auf alle Fre­und­schaften geschissen habe, ob ich aufge­hört habe zu trinken und stattdessen jogge oder umgekehrt. Ich sage okay und gehe in mein Zim­mer. Nach zwanzig Sekun­den komme ich wieder raus und klatsche in die Hände: „Bin fertig!“

Vor zwei Monaten …

Wie gewohnt han­delt es sich um ein Video, nur ein paar Minuten, und über diese ganze Sit­u­a­tion, und darüber, was es mit uns macht. Was in der Zukun­ft sein wird. Ob ich dazukomme, etwas zu schreiben. Ob ich psy­chisch schon am Ende bin und verzweifelt in ein­er Ecke sitze mit Essstörun­gen beziehungsweise wie ich abstürze. Ob der Früh­ling jemals kom­men wird und ob ich den Win­ter über­leben werde. Zehn Sekun­den später ist das Video da. 

Vor ein­er Woche …

Ich soll ein­fach ein kurzes Video schick­en. Wie sich diese neue Sit­u­a­tion auf unseren All­t­ag auswirkt, wie mein Wohnz­im­mer aussieht, noch bess­er wäre ein Ein­blick in mein Schlafz­im­mer oder meinen Müll­sack. Ob ich über­haupt zum Schreiben komme oder ob das jet­zt nicht mehr geht, weil es kein Leben gibt und die Hirne im Gefäng­nis sitzen. Ob jemand aus mein­er Fam­i­lie den Virus schon hat­te und daran gestor­ben ist oder eh nie­mand.  Ob ich über­haupt eine Fam­i­lie habe. Wie es der Kul­tur geht. „Es geht“, sage ich, und schicke das Video.

Freundinnen, Geld

Plattform
qrf

Neulich habe ich mein per­fek­tes Win­ter­out­fit gefun­den und ziehe nichts anderes mehr an. Es han­delt sich um einen Train­ingsanzug, den ich ursprünglich immer zu Hause getra­gen habe, und inzwis­chen auch jedes Mal, wenn ich hin­aus­ge­he. Ich ver­ste­he, dass hier nie­man­den inter­essiert, welche Farbe mein Train­ingsanzug hat. Das erzäh­le ich über­haupt nur, weil ich in den let­zten Wochen mehrmals mit Fre­undin­nen spazieren gegan­gen bin und immer exakt die gle­iche Klei­dung getra­gen habe, und das ist gut gegangen.

Drei von uns machen Online-Tur­nen mit Sophia. Sophia hat Mon­s­ter­ober­arme, und ihre Videos sind auf Schwedisch. Es ist meis­tens kein Prob­lem, dass wir kein Wort Schwedisch kön­nen. Falls wir das richtig ver­standen haben, feierte unsere Trainer­in neulich den fün­fzig­sten Geburt­stag. Alles Gute, Sophia vom schwedis­chen Fernsehen! 

Ein Fre­und, der vor einem Jahr begeis­tert war, dass er nicht mehr umständlich zur Arbeit fahren muss, hat inzwis­chen erkan­nt, dass er in der Matrix zap­pelt. Jet­zt ver­sucht er seine Wege trotz­dem zu machen. Zum Beispiel wird er für das Online-The­ater­stück Karten kaufen und vorher eine halbe Stunde lang mit den Öff­is fahren, um ins The­ater (also eh wieder nach Hause) zu kommen.

Meine Fre­undin­nen und Fre­unde behaupten, dass sie nicht mehr wis­sen, wie sie sich in Gesellschaft ver­hal­ten sollen. Wann sie schweigen, wann reden, wann lachen, wann saufen, wann rauchen sollen. Mir kom­men sie nor­mal vor, und wir machen sog­ar schon Pläne für den Som­mer. Geld wird hin und wieder erwähnt.

JEDE BLONDINE HAT EINE GESCHICHTE ZU ERZÄHLEN

Gestern war ich am Vor­mit­tag beim Friseur. Der Mann im Stuhl neben mir schwitzte, während ihm die Haare geschnit­ten wur­den, und zit­terte und erzählte von seinem Friseur-Trau­ma. Er ist 6 Jahre alt. Er sitzt im Friseurstuhl und sieht sich im Spiegel an. In Zeitlupe beobachtet er mit aufgeris­se­nen Augen, wie die Friseurin mit der sil­ber­nen Klinge sein Ohr erwis­cht und einen tiefen Schnitt macht. Das Ohr klappt um und blutet. Das Kind packt sein Pech und den Hor­ror des Lebens nicht. 

Deswe­gen bin ich ein biss­chen nervös“, sagte der Mann. Wir lacht­en, das war eine krasse Geschichte, aber danach wur­den wir alle unsich­er. Dem Friseur zit­terte die Schere in der Hand. „Zum Glück wer­den mir nur die Haare gefärbt“, dachte ich und sah zu mein­er Friseurin auf. Sie war beschäftigt. 

So ein Vor­gang dauert ein paar Stun­den. Inzwis­chen saß neben mir eine ältere Frau.

Was gibt’s Neues“, fragte sie. Der Friseur sagte: „Eigentlich ganz viel … Das will man aber alles nicht hören.“ Die Frau sagte „Ah, etwas Neg­a­tives? Das will ich tat­säch­lich nicht hören!“ Und so blieb das Gespräch heiter. 

Beim Auswaschen fiel mir allmäh­lich auf, dass meine Friseurin komisch schwieg.

Ist alles gut gewor­den?“, fragte ich und lachte ein biss­chen, damit die Frage nicht so scharf daherkommt.

Keine Antwort.

Ähm.“

Ich hätte hell­blond wer­den sollen, bin aber bunt grau-weiß mit Gelb­stich gewor­den, wie ein 13-jähriger Hund. Der Kol­lege mein­er Friseurin scherzte, dass bei den Haaren grau und weiß eigentlich syn­onym sind. Es vergin­gen weit­ere Stun­den, in denen meine Friseurin immer erschöpfter war, aber nicht aufgeben wollte, sie ver­suchte, ihre Ehre zu ret­ten, und trug eine weit­ere Schicht nach der anderen auf meine schon geschädigten Haare auf. Meine Kopfhaut bran­nte. Den ganzen Tag hat­ten wir nichts gegessen. Die Stim­mung war sehr anges­pan­nt, so viel Arbeit, so viel Zeit, und die Frisur passte nicht. Ich ver­suchte geduldig und nett zu wirken, ich wieder­holte ein paar Mal, dass ich das auf jeden Fall über­leben würde. Die Kopfhaut dro­hte aufzugeben.

Dazwis­chen kamen andere Leute, alle sagten das­selbe: wie sehr sie ihre Woh­nun­gen hassten.

Mit dem Son­nenun­ter­gang sank offen­bar auch die Konzen­tra­tion mein­er Friseurin, und sie begann mir hier und da mit den Haark­lam­mern in die Kopfhaut zu stechen, ließ die Bürsten auf meinen Kopf fall­en, haute mich mit dem Ellen­bo­gen. Sie war verzweifelt. Ihr Kol­lege war mit seinem Dienst längst fer­tig und schloss sich an, um die Stim­mung zu heben und mir zu erk­lären, dass so was dur­chaus passieren konnte: 

Es gibt wenige bzw. gar keine Friseure, die die Far­ben­twick­lung kom­plett unter Kon­trolle haben.“ 

Ich wun­derte mich. 

Er sagte: „Nur ein einziger Mann in der ganzen Welt kon­nte das Anfang 1990er, ein Genie aus Lon­don, der bei Sas­soon sein Leben diesem The­ma gewid­met hat. Profis sind mit ihren Farbprob­le­men zu ihm geflo­gen. Aber er ist schon lange tot.“ 

Ich sagte: „Es muss doch möglich sein, blond zu sein? Jeden Tag auf der Straße sehe ich so viele blonde Frauen, sie gehen an mir vor­bei mit ihren weißen und gold­e­nen blonden Haaren, was ist mit denen?“ 

Der Friseur sagte: „Du siehst Blondi­nen. Du siehst sie vor­beis­pazieren, einkaufen. Aber du soll­test wis­sen: Jede dieser Blondi­nen hat eine Geschichte zu erzählen.“

NIEDERLAGE

In dieser Geschichte muss ich joggen, aber es ist noch der erste Lock­down, und alle Men­schen auf der Straße mustern einan­der mis­strauisch, ver­suchen die Atem­re­ich­weite der anderen zu bemessen und eventuelle Gren­züber­schre­itun­gen im Voraus mit fin­steren Blick­en abzuwehren. Ich jogge, nach­dem ich es geschafft habe, mich zum Joggen zu zwin­gen. Mit auf­fäl­lig rotem Gesicht keuche ich an Men­schen vor­bei, die auf den Bus warten oder zur Arbeit gehen. Aus Höflichkeit mache ich noch größere Bögen um die Fußgän­gerin­nen als son­st und halte während der akuten Begeg­nungsphase meinen Atem an, wodurch das Joggen schlim­mer wird, aber das muss so sein, in diesem Augen­blick der Weltgeschichte.

Bei der Polizeis­ta­tion, wo der Gehsteig wegen eines Baums um einen hal­ben Meter enger wird, bleibt ein Mann mit Hund ste­hen. Eine junge Frau geht sehr langsam vor mir. Ich muss die langsam Gehende also entwed­er schnell vor dem Baum über­holen oder ste­hen bleiben und abwarten, dass alles sich regelt. Ange­blich tre­f­fen auch Emus immer wirk­lich schlechte Entschei­dun­gen im Verkehr, aber hier geht es um mehr als meine Fähigkeit, Dis­tanzen und Geschwindigkeit­en einzuschätzen.

Ich beschle­u­nige, um die Frau zu über­holen, sie wirkt sym­pa­thisch. Ich laufe, ver­suche meine Atem­losigkeit zu über­spie­len und läch­le. Sobald ich bei ihr bin, schaut sie kurz über­rascht, presst ihre Hand­tasche fest an den Kör­p­er und ren­nt davon.

Ver­dutzt sehe ich auf meine Klei­dung hin­unter: schwarze Kapuze, eventuell sehe ich ein wenig anar­chis­tisch aus, aber nicht sehr. Ich bin belei­digt, füh­le mich schuldig, meine Mund­winkel über­säuern. Jet­zt fürcht­en sich die Men­schen schon so sehr vor mir, denke ich, und sage ent­täuscht, auch ver­wun­dert: „Du musst doch nicht weglaufen (?)“ 

Darauf wird auch sie langsamer. Sie bleibt ste­hen, ringt mit sich, läuft drei Schritte weit­er, bleibt wieder ste­hen und sagt etwas, aber ich höre sie nicht. „Par­don, ich höre noch nichts!“, sage ich und nehme die Kopfhör­er raus. Sie sagt: „Ich wollte nur zum Bus. Nur zum Bus! Ich wollte den 10a erwis­chen!“ Sie wirkt auch trau­rig. „Oh, Entschuldigung!“, sage ich, falte meine Hände vor Entset­zen. „Ich dachte, du läuf­st vor mir weg!“ 

Das ist Früh­ling 2020 in Wien. Die Atmo­sphäre auf der Straße ist niederschmetternd.

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