In der Reihe [Grenzgänge], konzipiert vom Verein 8ungKultur und dem Literaturwissenschaftler Klaus Zeyringer, werden jeweils zwei Autor*innen in den Mittelpunkt gestellt und zu Werkstattgesprächen und Lesungen eingeladen. Seit 2021 findet die Veranstaltung in Kooperation mit dem Literaturhaus am Inn statt.
Sowohl in Anna Kims Roman Die Anatomie eines Kindes (Suhrkamp) als auch in Dirk Kurbjuweits Roman Der Ausflug (Penguin Verlag) geht es um „Rasse“ und Rassismus und um die Frage, wie wir aufeinander schauen und was wir glauben, im anderen zu sehen.
In Elisabeth R. Hagers drittem Roman Der tanzende Berg (Klett-Cotta) geht es um die junge Marie Scheringer, die nach Tirol zurückkehrt, um die Präparationswerkstatt des Onkels fortzuführen. Jetzt ist ihre Jugendliebe Youni tot und das Schweigen im Dorf schnürt ihr die Luft ab. Als eines Morgens eine Bekannte von Youni vor ihrer Tür steht, beginnt Maries erstarrte Welt zu bröckeln…
In Tanja Raichs zweitem Roman Schwerer als Licht (Blessing) lebt eine Frau auf einer tropischen Insel, auf der seltsame Dinge passieren: Die Blätter der Bäume färben sich schwarz, am Ufer liegen tote Fische, Feinde lauern im Norden der Insel. Parabelhaft verhandelt Tanja Raich die großen Fragen der Menschheit und ihres Untergangs.
„Solange Krieg herrscht, ist es schwierig, für Verständigung zu werben. Aber wann wäre es notweniger, es zu tun?“
Karl Markus Gauß, Rede zur Verleihung des Preises der Leipziger Buchmesse zur Europäischen Verständigung 2022
In unserem Programm spielten die Literatur und die literarische Tradition des Raumes, der die heutige Ukraine umfasst, eine wesentliche Rolle. Wir haben eine Auswahl für Sie zum Nachhören zusammengestellt:
Autorinnen und Autoren, Leserinnen und Leser möchten der Ukraine in der aktuellen schrecklichen Situation mit praktischer Hilfe beistehen. Geplant ist, einen Lastwagen mit dringend benötigten Gütern zu beladen: Kindernahrung, Hygieneprodukte, Medikamente, Verbandsmaterial, haltbare Lebensmittel etc.
Die Tiroler Speditionsfirma Nothegger stellt den LKW sowie die notwendige Logistik zur Verfügung, um den Transport zu ermöglichen.
In ausgewählten Buchhandlungen und an anderen Orten der Literatur werden Spendenboxen mit dem Logo und der Aufschrift Literatur hilft. Spenden für die Ukraine zu finden sein.
Es wäre ein schönes Zeichen der Humanität, Empathie und Solidarität, würde es gelingen, einen LKW randvoll mit benötigten Gütern zu füllen und somit ein wenig zur Linderung des Leids der Menschen im Kriegsgebiet beizutragen.
Spendenkonto „Literatur hilft. Spenden für die Ukraine“
Bankverbindung: Kremser Bank
BIC: SPKDAT21XXX
IBAN AT60 2022 8000 0043 9752
Roberta Dapunts in Italien preisgekrönter Lyrikband Sincope liegt nun im Folio Verlag mit den italienischen Originalgedichten und den deutschen Übersetzungen durch Alma Vallazza und Werner Menapace vor: In ihm bezieht Roberta Dapunt die poetische Auseinandersetzung vermehrt auf den eigenen Körper. Seine Gebrechlichkeit und seine Unsicherheiten werden in den Gedichten sowohl zum Spiegel von individuellen Befindlichkeiten als auch zur Reflexion gesellschaftlicher Zusammenhänge.
Wie Dapunt dabei die Spannung zwischen der Anerkennung sowie der Erhöhung des Schmerzes und dem Widerstand dagegen im Gleichgewicht hält, gehört zu den herausragenden Leistungen ihrer Lyrik.
>>> hier geht's zum Livestream
Wir können leider nur eine begrenzte Anzahl an Sitzplätzen mit sicherem Abstand zu einander anbieten. Gerne reservieren wir für Sie einen Platz, hierfür bitte unter literaturhaus@uibk.ac.at anmelden.
Bis 12:00 Uhr des Veranstaltungstages können wir die Anmeldungen bestätigen. Kurzentschlossene sind herzlich willkommen, wir bitten aber um Verständnis, sollten Sie aufgrund der Besucherbeschränkung keinen Platz mehr bekommen.
Robert Prosser verkörpert das Grenzgängertum, das vielen Autor*innen oft schnell bescheinigt wird, auf besondere Art und Weise. Bei der Recherche für seine Romane überschreitet er nicht nur Ländergrenzen – wie jene nach Syrien und Ghana für Gemma Habibi – sondern auch körperliche und mediale Grenzen. So hat er im Zuge der Arbeit an seinem 2019 erschienen Boxroman selbst zu trainieren angefangen und integriert den Sport ebenso wie musikalisch-rhythmische Elemente in seine Performances des Textes, die hoffentlich bald wieder erlebbar sein werden.
Der Roman rund um den Studenten Lorenz, der 2011 auf einer Reise in Damaskus den syrischen Kurden Zain kennenlernt, dessen Faszination fürs Boxen ihn ansteckt und zurück in Wien weiterhin begleitet, verbindet verschiedene Welten miteinander: das Arabische mit dem Wienerischen, Brutalität mit Zärtlichkeit – und wo die Protagonisten 2015, auf dem Höhepunkt der sogenannten Flüchtlingskrise in Wien wieder aufeinander treffen, die Grausamkeit von Flucht und Migration mit der Hoffnung auf Integration und Freundschaft.
Der Roman strahlt eine Aufbruchsstimmung aus, die uns seit seinem Erscheinen verloren gegangen scheint – Zeit, sich mit den Protagonisten Lorenz und Zain wieder für drei Runden in den Boxring zu begeben.
Robert Prosser: Gemma Habibi. Roman. Ullstein fünf 2019.
Robert Prosser war im Februar 2020 zu Gast im Podcast Auf Buchfühlung. Die Folge enthält Audiomitschnitte seiner Performance von Gemma Habibi. An den Drums: Fabin Faltin.
Tipp von Irene Zanol
Der Charme der langen Wege heißt sein neues Buch, die Geschichte eines Geräuschemachers, eines Künstlers, einer traurigen Person und einer Wirklichkeit, die weit entfernt des eigenen Lebens verläuft. Wenn die akustischen Effekte von Sprühdosen und Brausetabletten an Bedeutung gewinnen und man sich insgeheim fragt, wie die Klangwelten der Hörbuchkassetten seiner eigenen Kindheit entstanden sind, dann ist man dort gelandet, wo Hanno Millesi einen vielleicht hinbringen wollte.
Hanno Millesis Nähe zur Bildenden Kunst, seine vielfältigen Collagen und sein genau kalkuliertes Experimentieren mit Text und Situation machen ihn zu einer literarischen Ausnahmeerscheinung. Er schreibt nicht einfach Bücher, er erschafft parallele Realitäten. Die Lektüre seiner Werke, die einen wechselweise in Zustände innerer Unruhe und heiterer Erregung versetzt, hinterlässt gerne eine gewisse Irritation.
Hanno Millesis literarische Welt ist ein Zuschnitt unserer Welt, eine Verzerrung, eine Verwirrung, eine verkehrte Logik, die in sich schlüssig ist und gerade deshalb beängstigend sein kann. Alltägliche Situationen, die sich genau gegenteilig zu alltäglichen Situationen verhalten. Kompositionen des Lebens die Gefühle der Freude, des Lachens und tiefe Verunsicherung hervorrufen. Oder frei nach den Worten von Daniela Strigl über Hanno Millesi: „Seine Figuren zwingen uns, die Realität nach ihrer Facon zu sehen: als eine wahnwitzige Veranstaltung.“
Hanno Millesi: Der Charme der langen Wege. Roman. Atelier 2021
Tipp von Boris Schön
Lesung, Gespräch und Bilderpräsentation in der Stadtbibliothek Innsbruck: 25. Jänner 2022 um 19 Uhr. Save the date!
Für ein verlängertes Wochenende fährt Ipek zu ihrem Vater. Sie lebt eigentlich in Berlin, arbeitet dort als Journalistin. Doch als ihre Mutter zu einem Wellnessurlaub mit ihren Freundinnen aufbricht, beschließt sie, einige Tage mit ihrem Vater zu verbringen. Sie erinnert sich an und sehnt sich nach der engen Bindung, die es einst zwischen ihnen beiden gab und die sich schleichend löste. „Zwischen uns herrscht eine Wortlosigkeit, dass mir eng wird in der Brust.“ Wie eine unsichtbare Mauer steht Unausgesprochenes, stehen Missverständnisse und Verletzungen zwischen ihnen. Diese Sprachlosigkeit hat viele Gründe.
Die Eltern, einst der Perspektivlosigkeit in der Türkei entflohen, haben sich in Deutschland als Näherin und Polsterer ein bescheidenes Leben aufgebaut. Ipek lernt früh, mit Zurückweisungen und Beleidigungen im Umfeld umzugehen. „Geschwiegen haben wir und weggehört, die anderen haben geredet. Meinten wir, unser Schweigen könnte uns beschützen, das Böse würde einfach an uns abprallen, wenn wir nur den Mund geschlossen hielten?“
Ipek schafft es aufs Gymnasium, lässt ihr Milieu und die Sprache ihrer Eltern hinter sich, studiert, wird Journalistin – und entfernt sich immer mehr von ihrem Vater. Das verlängerte Wochenende, so hofft sie, könnte sie einander wieder näherbringen. Doch es ist ein schwieriges Unterfangen. „Überall fehlen mir die Worte, in deiner Sprache, in meiner Sprache und mit dir sowieso.” Nur im gemeinsamen Tun finden Ipek und ihr Vater einen gemeinsamen Rhythmus, eine Vertrautheit jenseits der Worte.
Die Erzählerin spürt der Entfremdung mit großer Offenheit nach, findet eine schnörkellose, geradlinige Sprache für die Sprachlosigkeit zwischen den beiden. Ein schmales, aber ungeheuer gehaltvolles Buch um die Fragen nach Identität, Heimat und Herkunft – nominiert für den Deutschen Buchpreis 2021.
Dilek Güngör: Vater und ich. Roman. Verbrecher Verlag 2021
Tipp von Susanne Gurschler
In der von Barbara Rieger herausgegebenen Anthologie Mutter werden. Mutter sein. erschienen im Leykam Verlag, erzählen 15 Autorinnen von der – wie es im Untertitel heißt – „ärgsten Sache der Welt“ und legen damit nicht nur einen literarischen, sondern auch einen gesellschaftspolitisch starken Auftritt hin.
Als Nava Ebrahimi im heurigen Jahr der Bachmannpreis verliehen wurde, saß sie pandemiebedingt zuhause vor einem Bildschirm. Über den Livestream zu sehen war lediglich ihr Gesicht, dahinter eine weiße Wand. Später jedoch tauchte auf Twitter und infolge auch in der Tageszeitung Der Standard ein Foto auf, das einen Blick in das Zimmer, in dem die Autorin im Moment der Verleihung saß, preisgab. Das Foto zeigt die Autorin auf ihrem Schreitisch sitzend, umringt von Spielzeug: Legosteine, eine Ritterburg mit Wassergraben, Matchboxautos und Puzzleteile waren auf dem Parkettboden des Zimmers verteilt.
Die ausgezeichnete Autorin wurde durch dieses Foto plötzlich auch als Mutter sichtbar. Da saß sie also die schreibende Mutter, in einem Zimmer, das also keines für „sich allein“ war, wie es Virginia Woolf empfahl, sondern eines, das scheinbar von den Kindern mit ihren Legorittern längst okkupiert worden war. Nava Ebrahimi ist eine der 15 Autorinnen, die von Herausgeberin Barbara Rieger eingeladen wurde, einen Text über ihre Mutterschaft beizutragen. „Ich wünsche mir“, schreibt Ebrahimi in ihrer Auseinandersetzung, die sie an einem „heißen Sonntag“ im „abgedunkelten Wohnzimmer“ in den Computer tippte, während ihr Mann mit den Kindern im Freibad ist, „dass ich diese Seite meines Lebens nicht mehr ausblenden muss, um als Schriftstellerin weiterhin ernst genommen zu werden.“ Damit trifft sie den springenden Punkt, denn tatsächlich „verheimlichen“ viele Schriftstellerinnen ihr Dasein als Mütter, um im Literaturbetrieb neben ihren männlichen Kollegen gleichwertig bestehen zu können.Die ausgezeichnete Autorin wurde durch dieses Foto plötzlich auch als Mutter sichtbar. Da saß sie also die schreibende Mutter, in einem Zimmer, das also keines für „sich allein“ war, wie es Virginia Woolf empfahl, sondern eines, das scheinbar von den Kindern mit ihren Legorittern längst okkupiert worden war.
Insofern liefert die – im ambitionierten Literaturprogramm des Leykam Verlags – erschienene Anthologie einen wesentlichen Diskussionsbeitrag zur Sichtbarmachung der Lebens- und Arbeitswelten von Care-Arbeit leistenden Schriftstellerinnen. Die Textsammlung korrespondiert dabei wohl auch nicht zufällig mit dem Kollektiv writing with care/rage, einer Gruppe schreibender Mütter, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, den Literaturbetrieb mit Forderungen nach faireren Arbeitsbedingungen zu konfrontieren. Vertreterinnen des Kollektivs, wie z.B. Sandra Gugić oder Lene Albrecht sind auch in der Anthologie zu finden.
Das Besondere an der Textsammlung ist aber nicht ausschließlich der Signal setzende, gesellschaftspolitische Aspekt, es sind vor allem auch die unterschiedlichen literarischen Herangehensweisen der Autorinnen: Katja Bohnet beispielsweise schreibt über eine Mutter-Tochter Beziehung in Form der skurrilen Geschichte Meine Mutter, die Serienmörderin, Teresa Bücker denkt darüber nach, ob es radikal sei ohne Partner ein Kind zu bekommen, Lene Albrecht verhandelt in ihrer Erzählung Eine gute Frau, den Fall einer jungen Mutter, die eine Putzfrau ohne Sozialversicherung engagiert und – trotz guter Absichten – erkennen muss, dass sie selbst Teil eines ausbeuterischen Systems ist. Sandra Gugić beschreibt in ihrer Reflexion Blut, Milch, Digitale Tinte eindringlich, wie sich ihre Art zu Schreiben (und zu Denken) durch die Geburt ihres Kindes verändert hat und was das für sie als Autorin bedeutet. „Es wird eine der großen Ideen des 21. Jahrhunderts sein, dass Mütter Schriftstellerinnen sind und umgekehrt“, schreibt Elena Messner ironisch in ihrem Brief an eine muttergewordene Schriftstellerin und Simone Hirth verfasst mit Wir wollen was ein flammendes Manifest, das die gemeinsame Kraft der Mütter dieser Welt hochleben lässt.
Mutter werden. Mutter sein ist vor allem auch ein Buch über Frauensolidarität und weibliche Wahlverwandtschaften, die durch die Kraft des gesammelten Auftritts spürbar werden. Ein inspirierendes Buch, in dem darüber hinaus erfrischende Gegenpositionen zum (wohl ohnehin schon längst überholten) Begriff des (männlichen) künstlerischen Genies deutlich werden. Empfehlenswert!
Barbara Rieger (Hg.): Mutter werden. Mutter sein. Leykam: Belletristik 2021.
Tipp von Gabriele Wild
Im Sommer nach meiner Matura wohnte ich bei der Gräfin Anne de Martel in der Rue Jean de la Fontaine im 16. Pariser Arrondissement. Ich war Au-pair-Mädchen in der Familie ihres Sohnes, lieh der alten Gräfin allmorgendlich mein höfliches Ohr, wenn sie von den jüngsten Ereignissen im Umfeld des von ihr verehrten Papstes Johannes-Paul II. berichtete, sagte „Bonjour, Madame“, „Au-revoir, Madame“, „Merci, Madame“ und sprach mit ihr nicht von den kommunistischen Intellektuellen, wie es mir ihre Schwiegertochter ans Herz gelegt hatte. Eines Tages kaufte ich in einer Pâtisserie am Marché Saint-Germain Makronen, deren unwirklicher Preis mir ein länger andauerndes Bauchkribbeln bescherte – und in meiner Erinnerung eine erste Begegnung mit Marcel Proust. Bei der späteren gemeinsamen Nachmittagsjause rief die Gräfin nämlich erfreut „Ah! Dorissse, des macarons de chez Gérard Mulot“ und fügte, noch bevor sie kostete, hinzu „Ah! quelle madeleine de Proust“. Madeleine war natürlich ein französischer Mädchenname. Oder auch ein Rührteigbiskuit in Muschelform, wie ich seit Kurzem wusste. Aber was in aller Welt bedeutete „proust“? Ich konnte die Gräfin nicht fragen, denn sie sprach bereits von einer anderen Zeit, verlor sich in Erinnerungen an die glücklichen ersten Jahre ihrer Ehe. Und so sollte für mich die Bedeutung von Proust noch fast ein Jahr lang im Dunkeln bleiben.
Den von Anton Thuswalder in Zusammenarbeit mit Silke Dürenberger und Mona Müry in Mein Proust-Moment versammelten Madeleine-Erlebnissen und Reflexionen (von Martin Walser, Bernd-Jürgen Fischer, Alexander Kluge, Anna Baar, Jens Wonneberger, Anna Kim, Christina Maria Landerl, Julya Rabinowich, Peter Kümmel, Eleonora Hummel, Daniel Wisser, Reinhard Stöckel, Elke Laznia und Josef Winkler) verdanke ich nicht nur die Wiederbelebung meiner ins Vergessen entschwundenen ersten Schokolademakronenerfahrung, sondern auch einen der unvergesslichsten Lektüremomente dieses Herbstes. Entlang begehrlicher Gerüche und trauriger Düfte, berauschender Aromen und unverwechselbarer Konsistenzen, tödlicher Klänge, Wermutkraut oder einer„Kombination aus Gras-Noten, einer Spur Säure und einem Hauch Vanille“ (99) – so beschrieben nach Reinhard Stöckel englische Wissenschaftler den muffigen Geruch alter Bücher – entfalten die von den Autor*innen so meisterhaft erzählten Einblicke in längst vergangene Sinneserfahrungen einen Zauber, dem man sich so einfach nicht entziehen kann und schon gar nicht will. Retrotopische Augenblicke des Banalen – von Martin Walser in seinem Text als „unscheinbare Situationen des Alltags“ bezeichnet und für ebenso wichtig erachtet „wie irgendeine Festwoche voller Metaphysik“ (15) –, die in ihrer sprachlichen Präzision und Schönheit Proust alle Ehre machen und uns daran erinnern, dass gerade in Zeiten wie den unseren „[d]as Lesen […] wie das Atmen eine essentielle Lebensfunktion“ ist (so Alberto Manguel in Eine Geschichte des Lesens).
Am Ende des Buches sind die Leser*innen aufgefordert, den Proust-Momenten der großen Autorinnen und Autoren auf dafür vorgesehenen leeren Seiten ein persönliches „unmittelbare[s], köstliche[s], alles erfassende[s] Aufzucken der Erinnerung“ (Die wiedergefundene Zeit) hinzuzufügen. Eine wunderbare Einladung, der man gerne folgt.
Anton Thuswalder (Hrsg.), Mein Proust-Moment. Was die Erinnerung großer Autorinnen und Autoren zum Blühen bringt, in Zusammenarbeit mit Silke Dürnberger und Mona Müry, Salzburg/Wien: müry salzmann, 2021.
Tipp von Doris Eibl
Die Anthologie Mein Proust Moment hätte, am 7. Dezember im Literaturhaus am Inn präsentiert werden sollen. Stattdessen „nur“ die Lese-Empfehlung.
Neuer Präsentationstermin ist Mittwoch, der 9. Februar – save the date!
In Johanna kommt die titelgebende Jungfrau nicht vor, zumindest nicht als Figur, in Hoppe imaginiert sich die Autorin selbst eine fantastische Autobiographie herbei. Weihnachten verlegt sie in Paradiese, Übersee nach Indien und in ihrem Roman über ihre Weltreise auf einem Containerschiff nimmt sie kurzerhand Antonio Pigafetta mit an Bord. Prawda hingegen, benannt nach der sowjetischen Zeitung, ist ein Roadtrip durch – wie könnte es anders sein – die USA. Es ist also nicht weiter erstaunlich, dass Felicitas Hoppe in ihrem neuen Roman Die Nibelungen. Ein deutscher Stummfilm nicht einfach nur den alten Sagenstoff in neuem Gewande präsentiert. Das deutsche Nationalepos wird vermischt mit einer Aufführung in der Nibelungenstadt Worms, im Hintergrund läuft dezent Fritz Langs Stummfilm von 1924 mit. Irgendwann gibt man auf, trennen zu wollen, was hier zur Sage gehört und was zur Inszenierung, wer Figur ist und wer Schauspieler, was Wahrheit und was Erzählung, immerhin lautet das Motto der Büchnerpreisträgerin Hoppe: „Es ist nichts erlogen, ich habe alles ehrlich erfunden.“ Der wahre Star des Hoppe’schen Erzähluniversums ist ohnehin ihre Sprache, die poetisch mit viel Witz neue Zusammenhänge herstellt und einen zwingt, eingefahrene Denkmuster aufzugeben. Mehr kann gute Literatur nicht leisten.
Felicitas Hoppe: Die Nibelungen. Ein deutscher Stummfilm. Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2021
Tipp von Veronika Schuchter