Daniel Wisser 14.–18.12.2020

14. Dezember 2020

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Das ist der Beginn eines Tage­buchs. Wenn ich es schaffe, es auch mor­gen noch zu führen, habe ich meinen Schnitt von 1,2 Tagen pro begonnen­em Tage­buch schon über­boten. Das Prob­lem ist: Was soll im Tage­buch aufgeschrieben wer­den? Und das noch größere Prob­lem: Was soll nicht aufgeschrieben wer­den?
Unlängst bin ich über einen Artikel über Jack Lon­don gestolpert. Jack Lon­don ließ sich für seine Kurzgeschicht­en Plots vom jun­gen Sin­clair Lewis schick­en. Wenn er einen davon brauchen kon­nte, zahlte er Lewis dafür 5,20 Dol­lar und machte daraus eine Kurzgeschichte. Er hat­te aber panis­che Angst, Lewis kön­nte vergessen, dass er Lon­don den Plot verkauft hat­te, und daraus selb­st einen Text machen. Diese Sorge war aber unbe­grün­det, denn Sin­clair Lewis war trotz seines Alko­holis­mus ein äußerst penibler und fleißiger Ver­wal­ter seines Werks und sein­er Noti­zen.
Vielle­icht sollte ich also jeman­den suchen, der mir seine Tage­ser­leb­nisse schickt, damit ich daraus ein Tage­buch machen kann. Wenn ich 5,20 Euro bezahle, würde mich ein Jahr 1898,00 Euro (ein Schalt­jahr 1903,20) kosten.
Da ist es klar, dass Schrift­steller, die bei Investi­tio­nen vor­sichtig sind, zu Naturbeschrei­bun­gen greifen. Übri­gens ist heute mor­gen beim Nah­se­hen — so nenne ich das Blick­en aus meinen Fen­stern, von denen mir jedes als eigen­er Nah­sehkanal dient — aufge­fall­en, dass der Him­mel über der Schrey­gasse tat­säch­lich drama­tisch ist. In dem kleinen Buch über häu­fige Fehler beim Schreiben gibt es ein Kapi­tel mit dem Titel Don’t describe sun­sets! Also lasse ich die Beschrei­bung und ver­suche ein Foto mit dem Smart­phone zu machen. Diese Wolken. Ich nenne sie: Elomen Elomen Lefi­talom­i­nal.

15. Dezember 2020

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Ohne­hin traue ich einem Datum nicht, beson­ders, wenn ich es selb­st aufgeschrieben habe. In mein­er Schulzeit habe ich immer zwei bis drei Monate gebraucht, bis ich die richtige (neue) Jahreszahl inter­nal­isiert hat­te. Wenn ich also 8. Jan­u­ar 1987 schrieb, wurde es wahrschein­lich in Wirk­lichkeit am 8. Jan­u­ar 1988 geschrieben. Diese Fehlleis­tung ver­stärk­te sich im Laufe meines Lebens. Nach der Jahrtausendwende schrieb ich oft 1991, wenn ich 2001 meinte.

Ver­mut­lich ist es also bess­er, nicht nur Leer­seit­en zu hin­ter­lassen, son­dern undatierte Leer­seit­en zu hin­ter­lassen. Vor kurzem habe ich erfahren, dass bei pro­fes­sioneller Dig­i­tal­isierung von Nach­lässen, auch alle Leer­seit­en ges­can­nt wer­den müssen. Das ist tröstlich, wenn man Kisten voller Tage­büch­er hat, die keinen einzi­gen Ein­trag haben.

Die Gewis­sheit, dass ein bes­timmter Ein­trag tat­säch­lich an einem bes­timmten Tag geschrieben wurde, ist also schw­er zu erzeu­gen. Ent­führer wis­sen das und lassen ihre Opfer immer eine Tageszeitung in die Kam­era halten.

16. Dezember 2020

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Das Foto ist der Beweis. Der Tag: Fre­itag, 2. Novem­ber 1990. Ein Bauar­beit­er bei der Bohrung des Chan­nel-Tun­nel zwis­chen Frankre­ich und Großbri­tan­nien. Über­schrift: Das his­torische Loch.
Die Zeitun­gen aus der Zeit, in der es keine Online-Archive gab, sind die einzig wahren Zeitzeu­gen. Auf das Netz als objek­tive his­torische Quelle ist kein Ver­lass, denn im Netz sind die Undo-Man­ag­er unter­wegs. Bis vor kurzem war das Bild unseres Bun­deskan­zlers als jungem Mann an der Seite des dama­li­gen Finanzmin­is­ters Karl-Heinz Grass­er noch auf vie­len Seit­en zu find­en. Seit eini­gen Tagen ist es ver­schwun­den und nur ein einziger Blog hat es vor dem Vergessen bewahrt. Was für ein Zufall: Das his­torische Loch!
Das Netz ist also zu jed­er Zeit ein Aus­druck der Wille der Mächti­gen. Wer hat wo angerufen und wieviel bezahlt, um was zu löschen? Es wird nicht Jack Lon­don gewe­sen sein und der Betrag nicht 5,20 Dol­lar.
Vielle­icht sollte ich ein Online-Tage­buch schreiben und mich dafür bezahlen lassen, dass ich Satz für Satz lösche und wieder offline nehme. Für manche Sätze bekomme ich vielle­icht nur ein paar Cent; für andere höhere Sum­men. Nicht für das Schreiben bezahlt wer­den, son­dern für das Löschen.
Auf Seite 9 des STANDARD vom 2. Novem­ber 1990 ist übri­gens ein Inter­view mit Ilse Aichinger abge­druckt. Titel: Hört jet­zt das Schreiben auf, wird alles noch schw­er­er. Ein Zitat aus dem Interview:

Unlängst hat mir ein Fre­und erzählt, 70 Prozent aller
Autoren auf der Welt sind Alko­ho­lik­er. Es wun­dert mich
nicht. Es ist ein har­ter Job. Unter Schrift­stellern ist die
Suizid­häu­figkeit ange­blich am größten.
An nächter [sic!] Stelle kom­men ange­blich die Metzger.

Mir gefällt das dop­pelte ange­blich und der Druck­fehler vom 2. Novem­ber 1990. Man sieht also, dass im Print-Archiv alles erhal­ten bleibt. Ob Ilse Aichinger wohl an Sin­clair Lewis gedacht hat?

17. Dezember 2020

Stern

Suizid­häu­figkeit und Alko­holis­mus unter Met­zgern ist ein steile Vor­lage für eine Kurzgeschichte. Ander­er­seits würde ger­ade eine solche Geschichte gut zum diesjähri­gen Wei­h­nacht­sun­frieden passen.
Der Film Wir sind keine Engel gehört für mich seit vie­len Jahren zur Wei­h­nacht­szeit. Eine Boule­vard­komödie, wie sie heute nie­mand mehr schreiben kann. Eine Komödie mit bru­tal­en Seit­en: Einem Ver­wandten den Tod zu wün­schen und diesen Wun­sch just Wei­h­nacht­en erfüllt zu bekom­men — das klingt nicht nach ein­er Komödie. Und doch schafft es dieser Film, daraus etwas Leicht­es, wenn auch nicht Seicht­es zu machen.
Wir sind keine Met­zger. Das ist vielle­icht für heute der passendere Titel. Ich muss die Gegen­frage stellen: Sind wir keine Met­zger? Die drei Sträflinge, die im Film zu Engeln wer­den, bekom­men am Ende ihren Heili­gen­schein. Woher soll­ten wir ihn heute nehmen?
Für mich gibt es dieses Jahr nur ein Wei­h­nachtswun­der: Wenn jemand nach Les­bos fliegt und auch nur einen kranken Men­schen aus den Lagern dort nach Öster­re­ich bringt, um ihn hier zu pfle­gen und zu betreuen; wenn jemand anstatt Absicht­serk­lärung und Empörung diese Tat voll­bringt, auch wenn sie oder er damit gegen die Rechtsstaatlichkeit ver­stößt. Wahrschein­lich, ziem­lich sich­er sog­ar, wird es dieses Wei­h­nachtswun­der nicht geben. Und ohne Wun­der keine Weihnachten.

18. Dezember 2020

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Der Blog wird in der geschichtlichen Betra­ch­tung der 20er-Jahre des 21. Jahrhun­derts jene Form gewe­sen sein, in der Wahrhaftigkeit und Gültigkeit (für kurze Zeit) noch möglich waren. Das wird aber nur Ein­träge betrof­fen haben, die unmit­tel­bar ver­fasst und unmit­tel­bar nach ihrem Ver­fassen gele­sen wor­den sein wer­den. Der his­torische Blo­gein­trag, der schon ewig im Netz ste­ht, in jen­em Netz, das ange­blich nichts ver­gisst, wird unter dem Ver­dacht der nachträglichen Manip­u­la­tion ste­hen. Die ein­stige Wahrhaftigkeit wird in der jew­eili­gen Gegen­wart als später erfol­gte Adap­tion an später herrschende Anforderun­gen gele­sen wer­den.
Der Tage­buch­schreiber muss also den zukün­fti­gen Blick auf die Gegen­wart als spätere Ver­gan­gen­heit vorausah­nen. Es ist inter­es­sant, dass wir keine Geduld für die Sprache von gestern mehr auf­brin­gen. Dass wir die Texte von gestern nur in der Über­set­zung ins Heutige unter Stre­ichung aller nicht-zumut­baren Stellen (und unter Änderung aller nicht-zumut­baren Wörter in zumut­bare Wörter lesen wollen) und in dieser gegen­wär­ti­gen Abän­derung mehr Authen­tiz­ität ver­muten als im Ver­fassen des Orig­i­nals.
Nicht manip­ulierte poli­tis­che Diskus­sion und Analyse find­et (fast) nur mehr in Blogs statt. Es kommt mir selt­sam vor, dass ich das schreibe. Ich kon­nte Blogs und Blog­ger eigentlich nie lei­den. Und die Vorstel­lung ein­er jed­erzeit möglichen Änderung eines bere­its veröf­fentlicht­en Texts empfinde ich als Bedrohung.

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