Isabella Feimer

Geschmückte Totenschädel

Isabella Feimer

30.04.–06.05.2020

Ein Anfang
und ein Inukshuk

Steinturm

Dieser Tage … so würde ich das Journal gerne beginnen lassen. Formschön fände ich es, mit diesen beiden Worten, die sich mir als zu betretender Raum in den Weg gestellt haben, jeden der kommenden sieben Einträge zu eröffnen. Dieser Tage passiert so einiges. Dieser Tage … gut, ich tippe es, doch der Gedanke stockt, bevor er sich überhaupt in mir bilden kann. Warum?, frage ich, frage mich immer nach einem Warum.

Jedem zu schreibenden Anfang liegt eine Schwere inne. Anfänge sind eine Welt, in der das Chaos regiert, überladen an Möglichkeiten und Unmöglichem. Alles will bereits im ersten Satz erzählt sein, drängt in einem, bedrängt und verhindert, dass sich auch nur irgendein Gedanke in Klarheit zeigt, geschweige denn, sich Gedanken aneinanderreihen. Urknall. Etwas Flirriges und Überdrehtes. Planetenmasse, die noch keine Masse ist. Mitunter ist es Angst, die sich in einen und in den einem umkreisenden Sternenstaub festsetzt, bevor man einen ersten Satz formulieren und mit ihm dem Text einen Zauber, der bis zum letzten Buchstaben fesseln soll, geben kann. Manchen fällt ein Anfang leicht. Mir nicht. Ich stolpere und strauchle und falle hin, schlage mir das Knie auf und schürfe mich am Ellenbogen. Kein Anfang schreibt sich aus mir heraus, ohne dass es nicht irgendwo ein bisschen schmerzt. Schmerz, der mir dann, sobald er nachlässt, eine Richtung weist.

Dieser Tage finde ich die zu schreibende Welt vermehrt in den Notizen, die ich auf Reisen gemacht habe, in meiner digitalen Fotokiste und in den Souvenirs, die mir manch Unterwegssein in den Rucksack gepackt hat. Mitbringsel — ich mag das Wort ob seines trashigen, in die Ecke geworfenen Charakters -, mir selbst als Erinnerung, ich will nicht sagen, an bessere Zeiten, daran glaube ich nicht, aber an ein Abenteuer und an den Gedankenraum, den jede Reise in ihr eigenwilliger Form einem öffnet.

Während ich mit einer Hand tippe, halte ich in der anderen Hand einen kleinen verschnürbaren Sack, in dem sich Jadesteine unterschiedlicher Größe befinden. Schüttle ich den Sack, klirren sie aneinander, rufen mir in heller Stimme zu, ich möge einen Inukshuk aus ihnen bauen. Inukshuk bedeutet Ein-Stein-Mann und ist in der Kultur der Inuit des Nordens Kanadas und Alaskas nicht mehr und auch nicht weniger als ein Stapel Steine. Steine, die, sind sie aufeinander positioniert, jenen zeigen, der einer Person gleicht, „that which acts in the capacity of a human“, wie es wörtlich übersetzt heißt, jenen, der den Weg zu anderen Dörfern und den Jagdgründen wies, der, so heißt es, war er in Trichterform aufgestellt, Tiere, vorwiegend Caribous, in die Enge trieb. Bis heute wird er als Markierungspunkt verwendet. Schön war es, damals als ich durch den Norden Kanadas und durch Alaska gereist bin, einem Inukshuk zu bewegen. Meist stand er in weiter Landschaft — an einem See, auf einem Hügel -, die kaum andere Orientierungspunkte bot. Nur Landschaft. Nur Weite. Nur ein Horizont, der nicht zu erreichen war und immer weiter in eine Ferne rückte. Immer zeigte mir der Inukshuk, wohin zu blicken und zu gehen wäre, wohin jeder Weg führen könne, wäre man gewillt, ihn fortzusetzen. Der, der im Fassungsvermögen eines Menschen handelt — wie schön, nicht? -, gab immer Hoffnung, gab immer eine Möglichkeit.

Ein Anfangspunkt, oder?, dieser Tage.

Die Kapazität einer Landschaft, Worte und ein Restrisiko

Schatten einer Karawane auf Sanddünen in der Wüste

Dieser Tage, in denen my home my castle and my cave ist, haben Landschaften, an die ich mich erinnere, ein unerschöpfliches Fassungsvermögen. Viel passt in so eine Landschaft, viel mehr, als sie sich selbst zutrauen würde, mehr als in ihr per se Platz hätte. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft projiziere ich in sie, dazu flatterhaft Emotionales und Wunschbehaftetes, dazu immer auch die Fiktion einer Geschichte, die ich in ihr finden könnte. Vieles findet sich. Schichten und noch mehr Schichten, manchmal an den Straßenrand geworfen, manchmal verfangen in einem Ast. Ein Narrativ schmiegt sich liebevoll an ein nächstes, ein Spiegel ist es, der einen Spiegel zeigt, der wiederum den ersten Spiegel … bis man den Punkt erreicht, an dem der Blick endet.

Die Landschaften, die ich mir in meiner Erinnerung und der Erinnerungsstütze eines Fotos oder einer Notiz genauer ansehe, sind von einem dicht gedrängten Figurenpersonal, mehreren Handlungssträngen, vielleicht sogar von nicht bloß einer Geschichte besiedelt. Noch unsichtbar, versteht sich, aber spürbar und penetrant lauter werdend und darauf pochend, erzählt zu sein. Erzähl mich, sagt die Landschaft, arbeite dich an mir ab, schöpfe aus mir und dir zugleich, bis nichts mehr von uns beiden übrig ist. Ich denke, ein Ozean in einem letzten Sonnenlicht, ich denke, Wind, der über meterhohe Dünen zieht, ich denke, Blätterregen, Steppenhexen und einen Gletscher, der eisblau wartet, bis er kalbt.

Eine Landschaft, je karger, desto wundersamer, ist nicht ausschließlich das, was dem Blick offenbart wird und der innere Blick auf sie projiziert. Sie ist gefüllt mit ihrer eigenen Geschichte, jener des Landes und all den Geschichten, die die Menschen, die sie gesehen haben, mit sich bringen. In stillen Momenten, bilde ich mir jedenfalls ein, kann ich diese Geschichten flüstern hören. Sie flüstern Worte in einer Sprache, die ich erst nach und nach verstehe.

Manchmal, um ehrlich zu sein, oft sogar, fehlen mir die Worte, um diese Landschaften zu beschreiben. Alle Worte, die mir in den Sinn kommen, so scheint es, sind bereits besetzt, schon einmal verwendet worden, schon dieses Klischee, das doch tunlichst zu vermeiden sei. Wie, frage ich mich, beschreibt man einen Sonnenuntergang?, wie eine Wolkenstimmung ohne Kitsch und ohne Pathos? Wo, bitte, nehme ich neue Worte her für, sagen wir, das Vogelzwitschern und das helle Frühlingsgrün, das dieser Tage meinen Hinterhof belebt? (Dieser Tage ist mir der Hinterhof auch eine Landschaft geworden, aus der ich schöpfen kann; unerschöpfliches, kleines Paradies, ein Schwanenflug, zum Beispiel, über dem kalten Metall der Dächer, Akkorde, manchmal, von Geisterhand zwischen Kastanie und Kaiserbaum gesetzt.)

Schreiben heißt doch, neue Worte finden, oder? Es heißt doch, Worte miteinander in eine Vernetzung zu bringen, die neues Licht auf Altbekanntes wirft. Worte stelle ich mir in ihrem Miteinander tatsächlich wie ein Netz vor, ein riesiges, knapp über dem Boden gespanntes Netz, das bei Hochseilakten Sicherheit verspricht und doch nicht immer geben kann.

Restrisiko, es bleibt. In manchen Worten steckt eine Verletzungsgefahr. In jenen, glaube ich, die dieser Tage „neuartig“ im Umlauf sind, angefangen mit „neuer Normalität“, nicht zwingend endend mit „Reproduktionsfaktor“. Verletzen kann man sich auch an jenen Worten, die hinter allem Schein zumutbare Wahrheit in sich tragen. Es sind die Worte der Poesie, scharfkantig, freiheitsliebend, Worte, die durch Oberflächen kratzen, die ausschließlich ein Risiko sind.

Restrisiko ist ein Wort, das ich nicht mag. Es geht, sieht man es sich genauer an, überhaupt nicht zusammen, ist weder Fisch noch Fleisch, ist der Atomindustrie geschuldet und beschreibt, salopp zusammengefasst, zumutbare Schäden.

Wüstenstaub, Chief Rolling Mountain Thunder und ein Stillstand

Zerlegtes Auto

Nevada im Spätsommer 2016. Die Hitze ist trocken und belegt den Rachen. Wüstenstaub setzt sich auf der Kleidung fest und versucht unter die Haut zu kriechen. Unwirkliche Kargheit, die sich von den ausgetrockneten Gräsern am Straßenrand bis weit über die fernen Hügel zieht, drängt sich in den Blick, auch ein Schild, das vor Schlangen und Skorpionen warnt. Die Interstate 80 spaltet das Land, verdoppelt seine Unerbittlichkeit. Wenig gibt es hier, wofür es sich zu halten lohnt. Ich halte trotzdem.

Dieser Tage muss ich vermehrt an die Begegnung denken, die mir der Wüstenstaub damals geschenkt hat. Es war die Begegnung mit der Gedankenwelt eines Mannes, der Frank Van Zant hieß und sich als Anlehnung an einen Native American Tribe Chief Rolling Mountain Thunder nannte. 1968, nachdem er sich ein Stück Land gekauft hatte, fing er an, Gebäude und Skulpturen zu bauen, die sein Interesse an der Geschichte der Native Americans und ihrer Artefakte widerspiegeln. Es sind fantastische Skulpturen, die aus allem zusammengesetzt sind, das sich finden lässt, Müll, Glasflaschen, Splitter, Autoreifen, ein kleines Flugzeug ist dabei, ein ausgehöhlter alter Wagen. Die erste Skulptur, die er schuf, stellte seinen Sohn dar, der sich kurz zuvor das Leben genommen hatte. Die folgenden Skulpturen portraitierten seine indigenen Helden.

Die Gebäude sind Schichten aus Beton und Glas, sind Steine, die er von den umliegenden Hügeln herankarrte; sie haben Stuckwerk, das spinnenbeinig in die Höhe ragt, an ihren Seiten sind bemalte und verzierte Figuren positioniert. Man kann nicht anders als sich von diesem Ort fangen zu lassen, betören von diesem mehr als nur Anflug einer Verrücktheit, die über Jahrzehnte einen unermüdlichen Architekten hatte und seine Besessenheit. Van Zant aka Chief Rolling Mountain Thunder hatte nichts mit Kunst zu tun gehabt, nie zuvor nur irgendetwas Künstlerisches gestaltet, bevor es dieses Grundstück gab.

Warum erinnere ich mich dieser Tage an diesen speziellen Ort und seinen Architekten, warum nicht an einen der vielen anderen skurrilen Orte, die ich auf Reisen gesehen habe? Ich vermute zweierlei.

Einerseits besticht die an diesem Ort wildwuchernde Freiheit, die ich in der Unbeschreibbarkeit der Skulpturen, ihrer Arrangements und jener der Gebäude zu erkennen glaube. Nichts ist irgendetwas Bekanntem zuzuordnen, alles erzählt die abenteuerliche Geschichte der Freiheit der Fantasie. Freiheit, muss ich denken, lässt sich dieser Tage außerhalb ihrer Beschränkungen an den Fingern einer Hand abzählen. Sie ist als Gut noch kostbarer geworden, ein Gut, das man schmerzhaft vermisst und das sich in den Raum der Fantasie zurückgezogen hat. Dort nur darf es Unkraut sein, das nicht vergeht, dort darf und kann es in den Himmel wachsen.

Einerseits die Freiheit also. Andrerseits war es ein Stillstand, der mir inmitten der Skulpturen und Gebäude begegnet ist, mich festhielt und im trockenen Boden zu verankern suchte. Etwas still Pochendes. Eine angehaltene Zeit. Ein Moment, dem sein Momentbehaftetes genommen wurde. Kaum ein realer Ort kennt Stillstand. Auch wenn es einem nicht so scheint, immer ist alles in Bewegung und in Veränderung, etwas wächst, etwas anderes darf derweil vergehen. Nicht dieser Ort damals. An diesem Ort stand alles still. Selbst der Wüstenstaub hielt, getragen von der warmen Luft, inne, selbst mein Atem, für Augenblicke mein Herz.

Ein Stillstand und das Gefühl des Ruhens, das in ihm liegt, kehren, schreibe ich diese Zeilen, in mich zurück. Ich kann die Hitze spüren, die Hügel in der Ferne sehen. Ich glaube, hört ihr es?, eine Schlange zischt.

Zeit, das Schreiben und eine Mitternachtssonne

Sonnenuntergang

Zeit dieser Tage ist ein eigenwilliges Biest geworden, das ihren Spaß dabei hat, uns zu täuschen. Es scheint, als verginge ein Tag, als hätte er es eilig, irgendwohin zu kommen, während sich die vergangenen Wochen im Versuch eines Rückblicks darauf als Zeitspanne einer Ewigkeit entpuppen. Stunden sind ein Fingerschnippen, während manch Minute so tut, als könnte sie nicht vergehen.

Wir alle haben dieser Tage mehr oder weniger an Zeit. Fordernd, wie es ihr Charakter ist, will sie gefüllt, gleichzeitig entleert werden, will beachtet, dann missachtet sein. Zeit ist eine Aufmerksamkeitssuchende und sie ist mehr denn je zu einem Raum geworden, in dem alles und auch nichts seine Möglichkeit hat. Ein wandelbarer Raum ist es, flexibel und unberechenbar in seiner Ausdehnung und Reduktion, in den Proportionen der in ihm befindlichen Gegenstände zueinander. Manch Stuhl ist riesig, manch Tisch so winzig, dass man nichts auf ihm abstellen kann. Die Dinge sind ihrer Funktion beraubt und müssen neu betrachtet werden.

Das Schreiben, das mir über die letzten Jahre auch ein unberechenbarer und in stetiger Wandlung begriffener Raum geworden ist, hilft, die Dinge, sind sie aus ihrer Funktion geraten, neu zu betrachten, ihnen ein gewisses Maß an Chaos zuzugestehen oder sie in eine alternative Ordnung zu ermahnen. Schreiben ist dem Phänomen der Zeit dieser Tage ähnlich, ist auch ein Biest, manchmal ein furchterregendes Ungeheuer, das nachts als Schatten aus dem Kasten kriecht.

Schmunzelnd stelle ich mir das Aufeinandertreffen beider Ungeheuer vor, den Kampf der Giganten Zeit und Schreiben. Godzilla, die Riesenechse, und Mothra, die überdimensionierte Motte. Mit Gebrüll prallen sie aneinander und gegen Wolkenkratzer, zerreißen Stromleitungen, dass die Funken sprühen, und treten Autos und Busse platt. Es ist ein Kampf, bei dem es keinen Sieger gibt, nur Trümmer bleiben.

Das ist zum Glück nicht immer so. Schreiben hat auch diesen anderen Charakter. Es ist flauschige Ummantelung, ein Schweben ist es, ein Getragensein. So leicht und flatternd schreiben sich manchmal die Zeilen aus mir heraus. So - an dieser Stelle will ich pathetisch sein - eine Liebe, die beschützt und einen wärmt, kann das Schreiben sein.

In der Ummantelung des Schreibens hat für mich nicht nur die weite Welt Platz, das Schreiben selbst dehnt sich im Tun in eine ungeahnte Weite aus. Es verläßt den Raum, in dem es begonnen hat, läßt seine Begrenzung nach und nach verschwinden, die Mauern werden unsichtbar. Sichtbar im offenen Blick ist ein unerreichbarer Horizont. Davor ist Weite, weite Landschaft, weite Welt.

Wieder - wie fast immer - bin ich in einer Landschaft gelandet. Das könnte meiner Sehnsucht nach dem dieser Tage Unmöglichem geschuldet sein. Es könnte. Landschaft aber ist, da bin ich mir sicher, das mir stärkste Synonym für das Schreiben von Literatur. Worte, Sprache, Rhythmus, die Erzählung - all das ist eine Landschaft. All das, vermutlich mehr, sind die Teile, durch die man das Ganze sieht.

Schreibe ich diese Zeilen, erinnere ich mich an eine bestimmte Landschaft. Mitternachtssonne. Eine Landschaft, in deren ungewohnter Absurdität alles möglich ist.

Eine Rückkehr nach Alaska, Kuriositäten und die Schwierigkeit dieser Tage, Prosa zu schreiben

Alaska Landschaft

Der Nachhall der Mitternachtssonne bringt mich in die Unwirklichkeit Alaskas zurück, in die Endlosigkeit der Landschaft und das Gefühl der Einsamkeit, das ich in den Tagen dort nie losgeworden bin. Es ist eine beklemmende Einsamkeit, die das Endgültige in sich trägt. Ist man ihr ausgesetzt, fühlt man sich verloren, man kann nicht anders. Man wird in sie hineingezogen, man wird von ihr verschluckt.

Alaska, in meiner Rückblende dieser Tage, war ein stets mit dunklen Wolken verhangener Himmel, war verwachsenes Grün jenseits der staubigen Straße, war ein Bergmassiv, das niemals aus dem Blick verschwand, war Krähenkrächzen und Kälte, die einen in den Schlaf hinein begleitet hat, es war Zwielicht bis knapp vor Mitternacht. Wie gesagt, ein unwirklicher Ort, der mir, bevor ich dort gewesen bin, eine große Sehnsucht war, ein Wunsch, der nach Erfüllung strebte.

Vor Ort war mir diese Sehnsucht plötzlich nicht mehr nachvollziehbar, ich wusste nicht mehr, was mich überhaupt an diesen Ort gezogen und was ich hier zu finden geglaubt hatte. Vor Ort wollte ich nichts anderes als ein Weiterziehen, als die Endgültigkeit, the last frontier Alaska hinter mir zu lassen. So unbedingt ich hierher wollte, so unbedingt wollte ich wieder weg. Weg aus der Beklemmung - an keinem Ort zuvor war sie dermaßen vehement in mich gekrochen -, weg aus dem Gefühl, das jede zurückgelegte Meile einen bloß weiter und das mit Bestimmtheit in ein Nichts führen wird.

Das Nichts begleitete auch die am Wegrand gefundenen kuriosen Geschichten. Da gibt es die Stadt Talkeetna, die etwa tausend Einwohner hat und am Fuß des Mount McKinley sitzt. Ein Durchzugstouristenort, dessen Bürgermeister seit 1997 eine Katze ist. Da gibt es an der Grenze zu Kanada, am Ende des malerischen Taylor Highways den Ort Chicken, der nicht mehr als eine Tankstelle und ein Souvenirladen ist. Als die Siedler damals im Jahr 1902 dem Ort einen Namen geben wollten, wollten sie ihn nach dem Nationalvogel Alaskas, dem Ptarmigan, einem Alpenschneehuhn, benennen. Dieser Plan scheiterte, weil niemand wusste, wie Ptarmigan zu buchstabieren wäre. Kurzerhand nannten sie den Ort Chicken.

Alaska dieser Tage, und das ist eigenartig, ist mir mit seinen Kuriositäten und seiner Endgültigkeit erneut eine Sehnsucht geworden. Jungfräulich fühlt sich diese Sehnsucht an, so, als ob ich nie dort gewesen wäre. Es zieht mich in diese außergewöhnliche Einsamkeit zurück, es zieht mich, darüber zu schreiben. Gerne würde ich eine Geschichte über dieses - mein gefühltes - Alaska schreiben, Prosa, die einer Figur folgt und aus ihr heraus erzählt.

Dieser Tage jedoch empfinde ich es schwer, Fiktives, auch wenn ich es in ein erlebtes Setting setzen könnte, aufs Papier zu bringen. Das diesbezüglich Erdachte fühlt sich schwer und träge an, nach einer Unmöglichkeit. Sinnlos fühlt es sich an, dieser Tage ohne Ziel. Was, frage ich mich, könnte fiktive Prosa der Wirklichkeit entgegenhalten? Welche alternative Welt müsste man erzählen, um wirklich etwas zu erzählen zu haben?

Noch ist mir dieser Möglichkeitsraum verschlossen. Noch ist auch er eine Sehnsucht.

Es fühlt sich an, als wäre ich schon einmal an diesem Ort gewesen und hätte vergessen, wie es dort ist.

Rückblende: ein unwirklicher Ort, der Prosa heißt, der dunkler Himmel ist und Verwachsenes und Kälte. Krähen krächzen, Zwielicht, nachdem die Mitternachtssonne endet, begleitet in den Schlaf.

Romantik, eine Berührung und Gedanken über Vergänglichkeit

Diverse alte Dinge

Dieser Tage Schreiben. Eine Fiktion also, die Suche nach Worten, nach Sprachgestaltung, nach Sinn. Atemlosigkeit stattdessen, während ich Erinnerungen zähle, mir die Finger wund zähle an den Bruchstücken, weil ich fündig werden will. Was genau ich suche, weiß ich nicht. Weiß auch nicht, ob ich mich in einer Nostalgie in Sepia verlieren werde, verlieren möchte. Vergilbtes Versatzstück-Eswareinmal ist nie mein liebster Ort gewesen.

Es fällt mir dennoch schwer, mich der eigenen Romantik zu entziehen, dieser Hinwendung zum Gefühl, zum irrationalen Sein, zur Verklärung. Vermehrt sucht sich das Gewesene Platz in mir zu schaffen, will das Gegenwärtige verdrängen. Gegenwart dieser Tage ist zunehmendes Unverständnis, ist das Kopfschütteln über eine bereits nach nur wenigen Wochen weggeworfene Solidarität und Empathie den Leben anderer gegenüber. Es war doch mal der Gedanke, oder?, jetzt, wann denn sonst, könnte man die Welt in eine andere Richtung drehen und etwas Kaputtes wieder gut, wenn schon nicht ganz machen.

Gewesenes also will mehr sein, als es ist, und will in einer Unwahrheit erzählt sein. Das Schreiben, sprich das Erinnern, auch an Dinge, die nie oder nicht passiert sind, wird zu einem Trickbetrüger, und ich will mich täuschen lassen. Ich will mich, romantisch gesprochen, hinein täuschen lassen in die Berührung von einem Innen mit einem Außen, die im Schreiben verborgen liegt.

Die Berührung, die im Schreibprozess stattfindet, kann ganz zart sein, kann ein Blatt oder eine Blüte sein, die man im Vorbeigehen streift, kann eine in den Nacken gehauchte Liebkosung sein, die Andeutung eines Kusses, ein Duft, durch den man einer schönen Erinnerung erneut begegnet. Ein warmer Sommerregen in den letzten Tropfen. Er erregt, und alles schwirrt und flirrt und flattert.

Auch anders, viel herber und härter, kann diese Berührung sein, ein unerwarteter Schlag oder etwas, das grob in einen greifen will. Aushöhlung, die einen leer und träge zurücklässt. Ein Kadaver, sein Zersetztes. Fleischfressendes Schlingpflanzenungetüm, nachts lockt es mit süßem Nektar Fliegen. Etwas Klirrendes, das durch seinen unerträglich hellen Klang etwas in einem selbst zerbrechen lässt. Etwas Dunkleres als Dunkelheit.

In dunklen Momenten denke ich, dass die Berührung der Anfang eines Endes ist. Am Ende ist man leergeschrieben, ausgekratzt. In diesen dunklen Momenten ist es wichtig, sich das Schöne, Zarte herzuholen, sich - hier schließt sich der Kreis vielleicht - irrational und verklärt zu erinnern.

Ein Ende, ein Abschied. Ein Sepiaglanz. Etwas Trauriges - ich kann es nicht bestimmen - hat mich im Schreiben dieser Zeilen eingeholt. Sagen wir, es ist das Gefühl der Vergänglichkeit, das meine Worte zögern lässt. Es besetzt sie, macht sie zu dem, was sie sind, nämlich zu etwas, das vergessen wird, vergessen sein wird, vielleicht in einem nächsten Augenblick.

Atemnot, das Schreiben, das sich gegen das Vergessenwerden wehrt, gegen das Ende, sich Blumen streuen und süßen Blütenduft verströmen will, der andere erinnert.

Ich frage mich, was kommt dann?

Ein letzter Eintrag, das Ende der Geschichte und eine Fiesta für die Toten

Geschmückte Totenschädel

Dies ist mein letzter Eintrag, eine Woche „Journaldienst“ endet, viel zu rasch, möchte ich anmerken, vieles muss - wie so oft - unerzählt bleiben, eine Andeutung, ein Hauch einer Geschichte, die man vielleicht, vielleicht auch nur unter anderen Umständen, weiter erzählen könnte, vielleicht nicht einmal ich, sondern jemand anderer. Also, bitteschön.

Ein Ende in einer Geschichte zu schreiben, ist mir leichter, als mich im Chaos eines Anfangs zurechtzufinden. Hat man es bis hierher geschafft und sich zu einem Ende hin erzählt, gibt es immer nur eine einzige Möglichkeit, wie es auszusehen hat. Der Ausgang ist gewiss. Diese Klarheit hat man sich über viele, viele Seiten erschrieben. Das Ende einer Geschichte ist ein luzider und befreiender Moment. Man lässt los, gibt her und bekommt sich selbst ein Stück zurück. Darf aus der Rolle der Schreibenden und aus den Figuren schlüpfen. Darf leer sein und diese Leere in vollen Zügen genießen. Das viel besprochene Schwarze Loch. Ich habe keine Angst davor, nicht mehr. Im Gegenteil, kurz vor dem Ende, freue ich mich darauf, freue mich auf neue Möglichkeiten, die vor mir liegen, auf die Zukunft, die ein unbeschriebenes Blatt ist und noch ganz ohne irgendeine Geschichte. Ein kleines bisschen Schwerelosigkeit. Ta-dah!

Auch in das Ende dieser Geschichte möchte ich fröhlich blicken, möchte Trompeten, Gitarren und Geigen und eine in Tracht gekleidete Mariachi-Stimme aufspielen lassen. Hört ihr den Herzgesang, der einen augenblicklich mitschunkeln lässt und zum Tanz auffordert? Ein Glas Mezcal in der Hand, eine Zigarette in der anderen. Man singt mit, corazón, mi corazón, schreit verzückt auf, johlt mit, um dann zu lachen. Die eine oder andere Abschiedsträne wegzulachen. Jetzt alle! Que bonito!

Erschöpft vom Tanz und heiser, weil ich zu laut gesungen habe, möchte ich in Farben blicken, in sie sinken und ganz benommen sein. In Grelles, Buntes und Lebendiges. Die Farben fehlen mir dieser Tage, vor allem die Farben Mexikos.

Gerne und oft erinnere ich mich an dieses Land und seine Menschen. An das Lachen, die Farben und die Musik. An die Wunscherfüllung, zum día de los muertos dort gewesen zu sein, in dieser besonderen Stimmung, in dieser Zwischenwelt, die das Leben und den Tod verbindet. Ein Tag wie kein anderer ist es, ein Tag, der viele Tage gefeiert wird.

Vor vielen tausend Jahren ist dieser Brauch entstanden. Die Kulturen der Azteken, Tolteken, der Nahua und anderer Völker waren es leid, ihre Toten, die immer noch Teil der Gemeinschaft waren, zu betrauern, empfanden es sogar als respektlos ihnen gegenüber, weil sie den Tod als natürlichen Bestandteil des Lebens sahen. Natürlich war es auch, dass die Toten zum día de los muertos in das Reich der Lebenden zurückkehrten und dass man diesen Anlass feierte. Eine Ofrenda als Willkommensgruß, geschmückt mit all den Dingen, die den Toten Freude machten. Durst muss gelöscht sein, Hunger gestillt. Blüten müssen zur Ofrenda hin gestreut sein, damit der Verstorbene den Weg zurück auch findet.

Zuckerschädel, Pulque, Brot der Toten, Tagetes-Nelken, ich spazierte an den liebevoll dekorierten Ofrendas vorbei, hielt an jeder einzelnen zu einer genaueren Betrachtung inne. Es ist ein Blick auf den Tod, dachte ich, der einem die Angst davor nimmt, es ist ein Ende, verziert mit den Samen eines Beginns.

Ein letztes Mal lasse ich die Musik aufspielen, die Trompeten, Gitarren und Geigen. Der Gesang beginnt. Ich schunkle mit und tanze. Jetzt alle! Kommt, zum Abschied, alle!

Danke, oh, wie schön.

Literaturhaus am Inn – Lieben, Sprechen, Fühlen, Genießen
Josef-Hirn-Straße 5
6020 Innsbruck

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