Karin Peschka 07.–13.12.2020

Journal aus diesen Tagen

7. Dezember: Tiere, Sterne, Satelliten

Eingeschneiter Strauch

Nicht unweit unser­er Woh­nung hausen Rat­ten, oder hausten, denn man hat Gift aus­gelegt, in ein­er schwarzen Box mit hal­brun­der Öff­nung, groß genug für die Rat­ten, zu klein für Hunde, Katzen und Igel. Oder Hasen, auch Hasen sieht man in der Gegend manch­mal, und Kan­inchen, davon gibt es eine ganze Pop­u­la­tion. An anderen Stellen Wiens noch mehr. Sie dez­imieren sich von selb­st, heißt es, durch eine Kan­inchenkrankheit oder ‑seuche.

In war­men Som­mernächt­en ver­ließen wir oft unseren Platz auf der Couch, ver­ließen also unseren Bau und gin­gen in den nahen Park, in der Stunde vor Mit­ter­nacht oder später. Wir legten die Köpfe in den Nack­en und woll­ten UFOs sicht­en, woll­ten gern dran glauben, dass es sie gibt. Die Bänke im Park sehen zwar so aus, sind aber nicht aus Met­all, son­dern aus Zement­fas­er, die das Vorhan­dene spe­ichert, Wärme und Kälte.

Vor weni­gen Tagen stand ich dort, wo wir im Som­mer saßen (über uns blink­te es und blink­ten doch nur Sterne und Satel­liten), bal­ancierte auf einem Bein und presste mir die turnbeschuhte Ferse des anderen ins Gesäß. Ich habe nach Jahren der Absti­nenz das Laufen wieder aufgenom­men. Dehne den Kör­p­er so gut es geht, vor mir par­al­lel ver­set­zte Wasser­flächen, Streifen mit Schilf, im Som­mer sang darin die gefährdete Wech­selkröte (man war ange­hal­ten, sie nicht zu stören). Es war früh dunkel gewor­den, ich dachte nach, wo und wie die Kröten über­win­tern; eine Fle­d­er­maus löste sich vom Baum, sehr schnell war sie, pfeilte in ele­gan­tem Bogen über die Wasser­ober­fläche, zurück blieben winzige Wellen. Ich nehme an, sie hat­te Durst.

Nach den Rat­ten will ich sehen, aber dazu braucht es Licht. Ihre Woh­nun­gen sind unseren Wohn­häusern im Auf­bau nicht unähn­lich. Sie leben in rechteck­i­gen Beton­nis­chen, die, in mehreren lan­gen Zeilen übere­inan­der­liegend, die Basis ein­er Lärm­schutzwand bilden, dahin­ter das Brausen des Verkehrs, davor eine Grün­fläche, die zum Gehsteig hin schmäler wird, aber in der anderen Rich­tung Platz genug bietet für Bänke, Bäume und einen Fußbal­lkä­fig. Jedes­mal, wenn ich vor­beig­ing, blieb ich ste­hen und zählte. Ich sah: Da graues Fell, dort eine Bewe­gung, immer mehr. Kleine, große, dicke. An guten Tagen waren es bis zu zwanzig.

Dann kam die Box. Heute stand ich, wartete lange und sah nur eine einzige Rat­te. Das, was ich für eine zweite hielt, war eine Taube, die sich in ein­er der ver­wais­ten Nis­chen zu schaf­fen machte. Ich weiß nicht, warum ich davon spreche. Es geht mir nicht aus dem Kopf.

8. Dezember: Gebenedeit, vermaledeit

Religiöses gemälde
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Sieben lange Jahre hat­ten die Sträuch­er keine Rosen getra­gen. Deren plöt­zlich­es Erblühen wird, so heißt es im Adventlied, durch Maria aus­gelöst, die schwanger durch den Dorn­wald ging. Es läge nahe, das flo­rale Wun­der allein ihrer Leibesfrucht zuzuschreiben, dem späteren Erlös­er und Aus­lös­er von Kreuz­zü­gen, Hex­en­ver­bren­nun­gen und ander­er, bis in die Gegen­wart reichen­der Grausamkeit­en. Sofern es Jesus tat­säch­lich gab – wed­er bin ich The­olo­gin noch His­torik­erin –, kann man davon aus­ge­hen, dass diese Begleit­er­schei­n­un­gen des Chris­ten­tums eben­sowenig seine Inten­tion waren, wie die bauliche Großar­tigkeit von Kirchen und die Män­ner-Dom­i­nanz in hohen Ämtern.

Adolf Holl (was für ein Glück, ihm begeg­net zu sein) schrieb viele Büch­er, darunter „Der let­zte Christ“1. Dieses Buch hat mir geholfen, Dis­tanz zu wahren und gle­ichzeit­ig die all­ge­gen­wär­tige Sehn­sucht nach Erlö­sung bess­er nachempfind­en zu kön­nen. Ich hätte es gern zur Hand genom­men, aber es ste­ht in meinem Efer­dinger Arbeit­sz­im­mer im Regal, und ich bin in Wien.

Zurück zum Dorn­wald, durch den wir im alle­gorischen Sinn auch wan­dern. Mit „wir“ ist die ganze Welt gemeint, ein Umstand, der im Zeital­ter des Seuchen­na­tion­al­is­mus beson­ders gerne überse­hen wird.

Maria, die im Rosenkranz als „gebenedeit“ Ange­betete, war ohne Makel emp­fan­gen wor­den, ohne Erb­sünde. Sie wurde „im ersten Augen­blick ihrer Empfäng­nis durch ein einzi­gar­tiges Gnadengeschenk und Vor­recht des allmächti­gen Gottes (…) rein von jedem Makel der Erb­schuld bewahrt.“ Und trat somit im „Zus­tand der heilig­machen­den Gnade“ ins Leben, eine für ihre vorbes­timmte Rolle wesentliche Qualifikation.2

Als Kind einem Kinder­glauben anhän­gend, war ich stets ob des heuti­gen Feiertags ver­wirrt. Die Zeitspanne zwis­chen Empfäng­nis und Geburt (vul­go Christkind) schien mir sehr knapp bemessen. Später, durch Reli­gion­sun­ter­richt und Jungschar-Aktiv­ität informiert, hielt ich den 8. Dezem­ber für den Tag, an dem, nein, nicht Maria durch den Dorn­wald ging, son­dern Anna und Joachim, ihre Eltern, Geschlechtsverkehr hatten.

Nun weiß ich: Am heuti­gen Tag wird der Unbe­fleck­ten Empfäng­nis gedacht, weil Papst Pius IX am 8. Dezem­ber 1854 durch eine Bulle das oben zitierte Dog­ma verkündete.

Ich fand es an der Zeit, zumin­d­est zur Entwirrung der Tages­be­deu­tung beizu­tra­gen, wo doch genug Unklarheit herrscht in der Stadt und in der Welt.

Nach­trag: Bleibt zu über­legen, ob bei ein­er befleck­ten Empfäng­nis nicht ein Rest Erb­schuld der Mut­ter­gottes nur den hal­ben Dorn­wald zum Blühen gebracht hätte. Oder ein Drit­tel. Oder hät­ten Dis­teln geblüht an Stelle der Rosen? Die sind ja auch sehr schön.

1 Adolf Holl „Der let­zte Christ. Franz von Assisi.“ DVA, Stuttgart 1979
2 siehe http://www.kathpedia.com/index.php/Unbefleckte_Empfängnis

Bild: Auss­chnitt aus „Bar­tolomé Este­ban Muril­lo: Immac­u­late Con­cep­tion of El Esco­r­i­al“ (Pub­lic domain, via Wiki­me­dia Commons)

9. Dezember: Über die Müdigkeit

Farbmarkierungen

Von einem Spazier­gang heimgekom­men, der nicht nur über befes­tigte Wege führte, beschloss ich, meine Schuhe zu putzen. Sie sind rel­a­tiv neu, so neu, dass ich kür­zlich gefragt wurde, ob ich am let­zten Tag vor dem Lock­down noch schnell beim Human­ic gewe­sen wäre. Nein, an jen­em Mon­tag Anfang Novem­ber wartete ich vor einem Wollgeschäft in der Rei­he net­ter Frauen, die nacheinan­der das Geschäft betrat­en. (Eine raus, die näch­ste rein, denn nur vier Kundin­nen durften gle­ichzeit­ig und so weiter.)

 Irgend­wo haben wir Schuh­putzzeug; in dem zuständi­gen Kör­bchen fand sich aller­lei schon lang nicht mehr Beachtetes. Wie die far­blose Schuhcreme in der gel­ben Tube, obe­nauf ein graues Poli­er-Schwämm­chen. Nach­dem ich den ärg­sten Schmutz mit einem Tuch ent­fer­nt hat­te, drück­te ich etwas Creme auf das schwarze Led­er, wollte sie mit Hil­fe des Schwämm­chens verteilen – statt dessen verteilte sich dieses über Schuh und Boden. Ich betra­chtete die gelbe Tube und fand: Sie sah sehr müde aus ohne ihren Schwammkopf.

Mate­ri­aler­mü­dung, wohin man schaut. Ich rede nicht von Soll­bruch­stellen und einge­planter Obsoleszenz, wodurch ein Gerät nach ein­er vorbes­timmten Zeit den Geist aufgibt, nicht repari­ert wer­den kann, son­dern nachgekauft wer­den soll, um die Wirtschaft anzukurbeln. Die Wirtschaft näm­lich erschöpft sich nie.

Ich meine das Müde­sein an sich, das ein­er und einem jed­erzeit begeg­net. Ger­ade an nass-kalten Tagen. Da fall­en die morschen Schicht­en, die sich von Holzver­schlä­gen lösen, beson­ders auf. Die ros­ti­gen Stellen, der ewige Dreck auf den Wasch­be­ton­plat­ten vor den Alt­glas­con­tain­ern. Immer hängt irgend­wo ein ver­lassenes Fahrrad schief an einem Zaun, eines der Räder fehlt, das andere ist ver­bo­gen, der Sat­tel gestohlen. An allen Eck­en und Enden liegen einzelne Fäustlinge, ver­lorene Schals, Schnuller und wegge­wor­fen­er Mundnasenschutz.

Die Autos, die vor dem Fen­ster parken, hin­tere­inan­der auf der einen Seite, schräg auf der gegenüber­liegen­den, sind mit welken Blät­tern über­sät, die Men­schen, die in sie ein­steigen, hal­ten die Köpfe gesenkt. Ich seh ihnen beim Aus- und Ein­parken zu und stelle fest: Das Aussteigen wird hin­aus­gezögert; das Hin­aussteigen in die kalte Luft bedeutet, sich dem zäh­grauen Him­mel auszuliefern.

Manch­mal aber, wenn jemand sein Auto zügig in die Park­lücke lenkt und sich im näch­sten Moment mit großen Schrit­ten flott ent­fer­nt, im Wegge­hen und ohne sich umzu­drehen die Türen versper­rt. (Der typ­is­che Ton, die Blin­klichter leucht­en.) Dann möchte ich das Fen­ster aufreißen und ihm nachrufen: Sei nicht so selbstgerecht!

Wie gut, dass ich zu müde bin. Hier ste­hend, mit der nack­ten gel­ben Tube in der Hand, Brösel vom Schwämm­chen am Pulloverärmel: Ich kön­nte nicht erk­lären, was ich damit meine.

10. Dezember: Fernsicht, Nahsicht

Ei aufschlagen

Jeden Dezem­ber um diese Zeit schreibe ich Mau­rine. Ich erzäh­le ihr von den ver­gan­genen Monat­en, berichte, wie es uns geht, wün­sche ihr im Namen aller, die sie ken­nen, fro­he Wei­h­nacht­en und stecke den Brief in eine schöne Karte. Dazu kommt ein Foto, heuer das von meinem Sohn und mir beim Champagnertrinken.

Die Adresse kann ich fast auswendig, nur den ZIP-Code der kleinen Stadt im Süden der USA merke ich mir nicht und muss, jedes Jahr erneut, Mau­rines Vis­itenkarte suchen. Während ich mit schwarzem Stift das Kuvert beschrifte, habe ich ihr kleines blass­gelbes Haus vor Augen. Ich sehe die Pal­men, das dicke Gras, die weiße Zufahrt, den Rosen­strauch, das Fliegen­git­ter bei der Tür. Ich höre das Tik­Tik­Tik der Wasser­sprenger, und wenn am tief­blauen Him­mel ein Raub­vo­gel kreist, Mau­rines Puss­Puss­Puss, weil, wo ist die Katze?

Vom Post­amt zurück über­lege ich, ob sie mir die Wahrheit sagen würde, wenn sie Prob­leme hätte. Ein­sam wäre, in finanziellen Schwierigkeit­en. Krank? Char­lie, Mau­rines Mann, hat­te einen Anker auf seinem linken Arm, ein verblasstes, ver­wis­cht­es Tat­too, das ich zulet­zt vor mehr als sieben Jahren sah. Mit­tler­weile lebt Mau­rine allein und Char­lie ist Erin­nerung. Ob sich immer noch jeden Mor­gen Sher­man, der Hund und Miss Puss, die Katze, zum Früh­stück ein­find­en und darauf warten, von der Fin­ger­spitze ihrer Mom­my But­ter schleck­en zu dür­fen? Ich mache mir Sor­gen. (Ist es arro­gant, sich im Leben ander­er für wichtig zu halten?)

Mau­rine ist einge­bet­tet in ihre Com­mu­ni­ty, hat Fre­und­schaften, Seilschaften, die sich um sie küm­mern. Aber jet­zt, in Zeit­en der Pan­demie? Ich räume den Schreibtisch auf, lege Karten und Kuverts zurück in ihre Schachtel.

Greif­bar­er, erre­ich­bar­er, weil im Ver­hält­nis zu Flori­da gle­ich ums Eck, leben unsere Eltern. „Pass auf“, sagt mein Vater, wenn ich ihn anrufe und um Rat frage. Etwa, weil ich mit­ten im Kochen nicht mehr sich­er bin, ob der Fisch vor oder nach dem Anbrat­en mit Zitrone beträufelt wer­den soll. Oder welch­es Mehl bess­er ist, wie lange ein Teig ras­ten muss und ob er dieses oder jenes Gewürz bevorzu­gen würde.

Wobei: Salz, Pfef­fer, Küm­mel, Muskat. Das und ein paar Kräuter, viel mehr braucht die gute Küche nicht. Meint der Chef. Der alte Wirt. Mit sein­er Wirtin. Ich sehe den Mar­il­len­baum im Vor­garten, die Beete in Win­ter­ruhe, den stein­er­nen Grander, ich sehe meine Mut­ter mir im Som­mer Blu­men zeigen, die wach­sen, obwohl sie dort, wo sie wach­sen, von ihr gar nicht gepflanzt wur­den. (Schau, wie schön die sind, sagt sie.) Ich sehe hin­ter dem Küchen­fen­ster meinen Vater ste­hen und mit Pfan­nen hantieren, weiß, wie er Zwiebel schnei­det, Champignons, Schnit­t­lauch, wie er Eier, Milch und Mehl ver­sprudelt, habe ihn tausend­mal dabei beobachtet, weil mein Vater, Jahrgang 1933, das alles seit jeher getan hat und auch heute tun wird, am zehn­ten Dezem­ber, seinem Geburt­stag, der unbe­d­ingt zu feiern ist.

11. Dezember: Wohnung putzen (für L.)

Einhorn

An Fre­ita­gen putze ich die Woh­nung, voraus­ge­set­zt, ich bin allein. Das Allein­sein ist wichtig; das Putzen fol­gt einem rit­u­al­isierten Ablauf, der durch die Anwe­sen­heit ein­er weit­eren Per­son gestört wer­den könnte.

Das Rit­u­al geht so: Zuerst bringe ich meinen Schreibtisch in Ord­nung. Liegt wenig Papi­er herum, wird sortiert, wegge­wor­fen, abge­heftet oder in die Ablage gelegt. Über­steigt die Zettel­wirtschaft ein gewiss­es Maß, stopfe ich alles in die blaue Ein­horn-Tasche, die zu diesem Zweck bere­it­ste­ht und beileibe nicht immer leer ist. Der Drehstuhl wird so platziert, dass er mit den Rädern auf der Fen­ster­bank und mit der Rück­en­lehne auf der Chaiselounge liegt, gemein­sam mit losem Kleinzeugs.

Ich habe den Abwasch gemacht und beginne in der Küche mit dem Abstauben. Gegen den Uhrzeigersinn, von der Mikrow­elle über das Regal zum Herd. Alles, was an beweglichen Teilen herum­ste­ht, kommt ins Vorz­im­mer (Barhock­er, Bartwisch, Türstop­per, großer Mis­tkü­bel). Im Wohnz­im­mer wech­sle ich mit dem Staub­wedel in der Hand direkt zum Bücher­re­gal. Der Com­put­er­schrank daneben wird von ein­er mas­siv­en Trophäe beschw­ert, ich habe sie 2015 beim Alpha-Lit­er­atur-Preis gewon­nen. (In Gedanken erlaube ich mir das Wort­spiel, schon wieder einen Preis abzus­tauben.) Ich arbeite mich quer durchs Zim­mer, hebe den Couchtisch vom Tep­pich, überse­he regelmäßig die ein­same rote Christ­baumkugel, die ganzjährig in einem Gesteck aus grü­nen Zweigen hängt, dafür nie den alten Leser­aben, der dem Bücher­re­gal gegenüber auf einem Wand­bord sitzt.

Es geht flott voran, einiges wird feucht gere­inigt. Mein Schreibtisch ist weiß, die Bleis­tift­striche, die ihm im Lauf der Woche zuge­fügt wur­den, lassen sich aus­radieren. Sobald alle Räume vom Staub befre­it sind, kippe ich die Fen­ster und putze im Vor- und Badez­im­mer die Spiegel sowie die äußeren Wände der Duschkabine.

Jet­zt kommt der Knüp­pel aus dem Sack, nein, der Staub­sauger aus seinem Ver­steck. Ich sauge im Badez­im­mer, dann in der Küche, auch unter der Anrichte und in den Spal­ten zwis­chen den Kästen. Dazu ent­ferne ich den Bürstenkopf. Im Wohnz­im­mer sauge ich den Tep­pich, grün und hochflorig, stelle den Couchtisch zurück, wo er hinge­hört, sauge den Rest der Woh­nung, mit Aus­nahme des hal­ben Wohn- und des ganzen Vorz­im­mers, da sich dort noch Mobilien aufhalten.

In einen Kübel mit sehr heißem Wass­er gebe ich etwas Putzmit­tel (es ist gelb, aber die Flasche bald leer) und beginne mit dem Boden­wis­chen. Der Luftzug der geöffneten Fen­ster sorgt dafür, dass Par­kett und Fliesen schnell trock­nen und ich somit die restlichen Möbel zur Seite rück­en kann, zum Beispiel vom Vorz­im­mer in die Küche, oder die Esstisch-Stüh­le in die bere­its gere­inigte Wohnzimmerhälfte.

Abschließend sauge und wis­che ich den nun­mehr leeren Rest­bo­den, warte fernse­hend auf der Couch, bis alles trock­en ist. Ich räume die Sachen wieder auf ihren Platz und habe Ord­nung in der Woh­nung und ja, auch im Kopf.

(Um Fra­gen vorzubeu­gen: Die weit­ere Per­son übern­immt ihre Auf­gaben, ich übernehme meine.)

12. Dezember: Ob die Wände heute senkrecht stehen?

Handabdruck auf Steinwand

Jet­zt, wo die Woh­nung sauber ist und die Gedanken geord­net, kön­nen wir wieder unsere kleinen Kreise ziehen, denn: Die Mexikokirche hockt schön an der Donau, der Stephans­dom stein­ert im Zen­trum herum, und die Türme der Votivkirche sind so zugig, dass die Luft durch­saust wie nix. Der sech­ste Tag, so wurde ich belehrt, ist der siebte, der Sam­stag jen­er, an dem Gott sich aus­ruhte oder den Men­schen schuf oder in das Him­mel­szelt nieste, auf dass es zu glitzern begin­nen möge durch Myr­i­aden hingerotzter Sterne.

Was mich an den Mann im Super­markt erin­nert; ich braves Kind war gestern schon einkaufen, habe die Vor­ratskam­mern gefüllt, ein Kalb zer­legt, zwei Gänse geschlachtet, drei Tauben gebrat­en und vier schillernde Forellen zum Räuch­ern in den Kamin gehängt. Außer­dem die Kartof­feln im Sand ver­graben, damit sie länger hal­ten. Als die Kartof­feln noch in ihren Net­zen lagen und diese im Einkauf­swa­gen, den ich durch die Gänge schob, nieste ein Mann heftig und mehrmals kurz hin­tere­inan­der. Dann war es still, abge­se­hen von der Kaufhaus­musik und dem Dis­put eines greisen Ehep­aares. Das sich uneins war, Grün‑, Rosen- oder Spitzkohl? Der Stre­it endete mit dem Satz: „Du isst es eh nicht.“ Oder so: „Du musst es eh nicht essen.“ Im Gang nebe­nan (Gewürze, Essig und Öl) die näch­ste Nies­salve, ein­deutig männlich. Wobei.

Jet­zt hab ich mich tat­säch­lich ablenken lassen vom Kreiseziehen um sam­stägliche Kirchen. In irgen­dein­er hän­gen winzige Vam­pire im Chorge­bälk, verkehrt herum natür­lich, die kalten Händ­chen über der steifen Brust gekreuzt, die Augen geschlossen und Fangzähne bohren sich in blasse Lip­pen, allerd­ings nur im Halb­schlaf. Im Tief­schlaf geschieht es ab und zu, dass ein­er den Halt ver­liert und abstürzt. Was Fleck­en auf dem Kirchen­bo­den macht, sehr hil­fre­iche Fleck­en, denn die Got­t­losen hausen nur in von Gott ver­lasse­nen Gotteshäusern, und so kann man diese von den unver­lasse­nen leichter unterscheiden.

Ist das der Grund, warum man den Blick gesenkt hal­ten soll? Als Kind war mein­er immer oben im Kreuzgewölbe, bei den dick­en Engeln, die nur Kopf und Flügel waren, und bei den Augen der Heili­gen, mehr weiß als Iris und Pupille, weil him­mel­wärts gedreht, wohin son­st. Vorne hat der Dechant/Pfarrer/Priester gere­det, auch damals kon­nte ich dem Gepredi­ge nicht fol­gen, wie später dem Lehrper­son­al sämtlich­er Schulen und allen Vor­tra­gen­den in allen Kon­feren­zen und Sitzun­gen, die ich besucht habe oder besuchen musste. Jemand redet drei Sätze am Stück, und ich bin weg. Wo?

Vielle­icht bei den kleinen Kreisen, die sich zwis­chen Kirchen so wun­der­bar ziehen lassen. Man muss nix reden, man kann viel sehen, die Gedanken weichen müh­e­los her­ab­fal­l­en­den Vam­piren aus, wie Mück­en um Regen­tropfen herum­tanzen. Und wenn doch ein­er zu träge ist und erwis­cht wird, ist es auch egal.

Nach­trag: „Nicht nur für Jugendliche, auch für viele Erwach­sene, ist nichts unbe­haglich­er als ein gesellschaftlich­er Hia­tus, eine Peri­ode unstruk­turi­ert­er Zeit, in der alle Anwe­senden schweigen und keinem etwas Besseres ein­fällt, als etwa zu fra­gen: ‚Glauben Sie nicht auch, dass die Wände heute Abend senkrecht ste­hen?‘“ (Eric Berne, „Spiele der Erwach­se­nen“, erst­mals 1964 erschienen unter dem Titel „Games Peo­ple Play: The Psy­chol­o­gy of Human Rela­tion­ship“. In ein­er Auflage aus dem Jahr 2012 find­et sich die oben zitierte Stelle auf Seite 20, das habe ich ergoogelt, meine eigene Aus­gabe ist in Efer­d­ing. Ich nehme an, das Zitat find­et sich dort eben­falls auf Seite 20. Die zen­trale Frage hört sich im Englis­chen übri­gens noch viel schön­er an: “Don’t you think the walls are per­pen­dic­u­lar tonight?“)

13. Dezember: Nichts von Belang

KP_7_1 Plastikchamäleon

Wochen­rückschau. Über Rat­ten habe ich geschrieben, über Ufos und Sterne, Adolf Holl kam vor und Maria im Dorn­wald, ein ver­lassenes Fahrrad, ver­lorene Schnuller, müdes Mate­r­i­al an grauen Tagen. Salz, Pfef­fer, Muskat, dick­es Gras vor einem blass-gel­ben Haus, Blu­men, die wach­sen dür­fen. Bartwisch und Leser­abe. Vam­pire, die im Tief­schlaf auf Kirchen­bö­den fallen.

Heute ist Son­ntag. Ich lege die Beine auf den Tisch und denke nach. Ich lege auch die Fak­ten auf den Tisch und erkenne, dass sich im Jour­nal nichts Tage­sak­tuelles find­et, obwohl es im Titel „aus diesen Tagen“ trägt. Als gäbe es kein pan­demis­ches Geschehen, keinen Pop­ulis­mus, wo Poli­tik sein sollte, kein Tren­n­mess­er namens „Sol­i­dar­ität“, keine Ver­ach­tung von Zustän­den der Unsicher­heit, keine Men­schen, die im Dreck ver­reck­en, über­all auf der Welt, vor den Toren Europa, an dessen Rand und in sein­er Mitte. Als wäre es möglich, diese Schuld abzuwälzen.

Wie sich ein Chamäleon über Zweige bewegt, so bewege ich mich durch die Zeit. Durch diese Zeit. Zöger­lich einen Arm vorstreck­end, sehr langsam den Ast greifend, die Augenkegel skep­tisch und unab­hängig voneinan­der in alle Rich­tun­gen drehend. Wär schön, das zu kön­nen. Ein Leben in Slow­mo­tion. Ich würde in einem Ter­rar­i­um hock­en, von rot­er Höhen­sonne gewärmt, mit kün­stlichem Regen bereg­net. An lan­gen Pinzetten reicht man mir Heim­chen, an Feierta­gen Nacht­fal­ter. Geduldig, weil ich zuerst die Erken­nt­nis gewin­nen muss, was da vor mir zuckt und zap­pelt. Bevor ich mich entschließe. Dann geht es schnell, dann ist flott gegessen. Und eben­so flott wieder erstar­rt. Geschaut. Gezögert.

Ich habe gehört von einem britis­chen Zoo, dort lebt ein Chamäleon­mann, dem ein Weibchen zuge­führt wurde, aus Frankre­ich importiert. Zum Zweck der Verge­sellschaf­tung und Repro­duk­tion. Das Män­nchen wech­selte die Far­ben, näherte sich dem Weibchen an, saß täglich ein Stück näher und nach ein­er Woche tat­säch­lich neben ihm. Als es am näch­sten Tag den Kral­len­arm um die Braut leg­en wollte, war diese tot vom Baum gefall­en. Die Pflegerin gab zu bedenken, dass sie nicht glaube, das Män­nchen würde unter dem Ver­lust lei­den. Sehr wahrschein­lich habe es sich nur über den schnellen Abgang gewun­dert. Monate später kam das zweite Weibchen, die Schwest­er des ersten. Dass es schön stäm­mig und kräftig sei, wurde extra her­vorge­hoben. Man startete einen neuen Versuch.

Wie es weit­erg­ing, weiß ich nicht. Ich war müde gewor­den und schal­tete den Fernse­her aus. Mein Fatal­is­mus ist ein dün­ner Pol­ster, auf dem es sich im All­ge­meinen gut schlafen lässt. Nur: Ger­ade ist nichts allgemein.

Die Woche ist vor­bei, um ein Haar hätte ich mein Inner­stes preis­gegeben. Ich drehe die Kegel mein­er Chamaläonau­gen und seh nach, wer rechts vorne ste­ht und wer links hin­ter mir.

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