Katharina Ferner 23.–29.11.2020

37 Grad Außentemperatur

Weg zwischen zwei Feldern

Ich stelle mir vor, ich bin auf Stipendi­um und das Geld ist noch nicht angekom­men. Das ist in diesem Fall nicht so schlimm, solange ich angekom­men bin. Ich bin irgend­wohin gereist in einem Zug, der über­voll war. Ein Sech­ser­abteil mit schwitzen­den Som­mer­men­schen. Ein Abteil wie bei ein­er Schul­reise, nur dass wir einan­der nicht ken­nen und deswe­gen tun­lichst darauf acht­en uns nicht zu berühren, nicht anzu­at­men, nicht allzu auf­fäl­lig zu schauen. Die Nacht­beleuch­tung ist an und wir atmen keuchend hin­ter unseren Masken. Es ist meine erste Fer­n­reise seit ein­er gefühlten Ewigkeit. Ich kann nicht ein­mal mein Buch aus dem Ruck­sack ziehen. Es gibt ein­fach keinen Platz. Ich bin panisch glück­lich. Bis zum Mor­gen­grauen steigt nie­mand aus, obwohl wir sehr oft und sehr lange halten.

Ich stelle mir vor, ich sitze wieder in diesem Zug und steige an allen Sta­tio­nen, die ich nicht kenne, aus und sehe mir die Städte an, bevor ich weit­er­fahre. Ich bewegte mich ungezwun­gen durch die Land­schaft, die Stech­mück­en ließen mich zufrieden und das Wass­er gin­ge mir nie aus. Es wäre ganz ein­fach auszusteigen. Erst danach begän­nen die Prob­leme, Kon­trollen, Fieber­messen. Ich denke an Rom und wie sich alles mit einem Schlag änderte. Ein­bahn­sys­tem an Bahn­hof, leere Wag­gons, Tem­per­aturbes­tim­mung beim Ein- und Ausstieg. Irgend­wie hof­fen, dass man trotz der 37 Grad Außen­tem­per­atur nicht zu sehr schwitzt. Ich fahre weit­er. Ich ver­ste­he nichts. Ich habe keine Ahnung, wann meine Sta­tion kommt. Ich bin sel­ten so ruhig gewesen.

V. holt mich ab. Es ist später Nach­mit­tag und ange­blich die heißeste Zeit hier. Ich ignoriere das, trinke zwei Liter Wass­er, stelle mich unter die kalte Dusche und nehme dann voller Taten­drang einen der Tis­che in Beschlag. Kurze Zeit später zeigen sich die Auswirkun­gen der schlaflosen Zugnacht und ich fläze am Sofa und fächere mir mit ein­er Fliegen­klatsche Luft zu. Später zwinge ich mich, den Kof­fer auszu­pack­en, mir fällt auf, dass ich keine einzige Jacke mithabe und keine Regen­sachen. Zugegeben, das Wet­ter sieht nicht danach aus, als würde ich etwas davon brauchen.

Ich gehe um acht ins Bett und finde es komisch, dass es bere­its so dunkel ist.

Novem­ber: Ich sitze am Schreibtisch neben der Heizung und trinke Tee. V. schickt mir einen Link mit ital­ienis­ch­er Poe­sie. Er glaubt immer noch, ich ver­ste­he Ital­ienisch, wenn die Nachricht in Gedicht­form daherkommt. So sehr ich an die uni­verselle Wirkung der Poe­sie glaube, bish­er hat der Lyrik­sprachkurs noch nicht gefruchtet.

Markttag

Naturweg

Ich stelle mir vor, zur Salzburg­er Schranne ist auch Mark­t­tag in Paliano. Es ist tat­säch­lich so, nur der eine Markt ist 995 Kilo­me­ter vom anderen entfernt.

Während ich hier mit Schal und Hand­schuhen zehn Minuten mit dem Fahrrad an der Salzach ent­lang­fahre, kommt es mir nicht wie drei Monate, son­dern wie drei Jahre vor, dass ich mich zu Fuß auf den Weg zur palianesichen Hügel­stadt gemacht habe. Es brauchte zwei Anläufe, bis ich die Wegkarte richtig gele­sen hat­te. Zu wenig Wass­er und kein Gelsen­spray im Gepäck. Ein notwendi­ges Uten­sil für ver­meintliche Abkürzun­gen durch das Gebüsch. Dafür Son­nen­hut, Son­nen­brille, Son­nen­creme und einen Wan­der­stock, der not­falls auch als Vertei­di­gung dienen kön­nte. Bei meinem ersten Ver­such, in die Stadt zu gelan­gen, ver­brachte ich einige Zeit damit, ein geris­senes Huhn anzus­tar­ren, das kopf­los in ein­er Staude hän­gen geblieben war. Dann ver­suchte ich den Hun­dewächtern weitläu­fig auszuwe­ichen und lan­dete dafür an ein­er Schnell­straße mit dis­telüber­wuchertem Straßen­graben, was mich meine som­mer­liche Schuhauswahl über­denken ließ.

Ich stelle mir vor, wie es zu dieser Jahreszeit in Paliano gewe­sen wäre. Herb­st­laub und küh­le Mor­gen­stun­den. Stattdessen stand ich um fünf Uhr auf, um rechtzeit­ig im Ort zu sein, nicht in der prallen Sonne, die Hunde noch im Stall beim Melken. Ich fühlte mich wie eine Super­heldin. Dieses Mal in Turn­schuhen, hinein in den Son­nenauf­gang, hätte mich in Berg­blick und Nebel ver­lieren kön­nen, aber ich musste weit­er. Der Straßen­verkehr blieb immer der­selbe. Das let­zte Stück war länger als gedacht, aber ich sah die ersten Geschäfte, die Läden hat­ten alle noch geschlossen, es war erst sieben, es war eigentlich viel zu früh für Aus­flüge. Die Mark­t­stände wur­den erst aufgebaut.

Später ver­suche ich mich im Getüm­mel zu behaupten, was schwierig ist, weil ich nur auf die Sachen deuten kann die ich haben möchte, wahl­los deutsche Wörter in die Gegend werfe. Ich plane, mit dem Bus zurück zu fahren, weswe­gen ich eine Wasser­mel­one und eine Flasche Wein kaufe. Der Bus kommt aber erst in zwei Stun­den, die Sehenswürdigkeit­en habe ich schon alle gese­hen und die Cafés schließen zur Mit­tagszeit. Seufzend mache ich mich also mit Mel­one am Rück­en und Wein in der Hand wieder zu Fuß auf den Weg.

Novem­ber: Die Stände bei der Schranne sind weitläu­fig verteilt. Die Men­schen ord­nen sich in Schlangen. Es ist wie ein kleines Lebens­mit­tellabyrinth, am Ende spuckt es einen voll­be­laden wieder aus. Essen ins Kör­bchen, Kaf­fee und Kuchen gibt es dann zu Hause.

Das Vermissen

Eidechse

Ich stelle mir vor, einen Tag lang zufrieden zu sein, damit gesund zu sein und meine Fam­i­lie in der Nähe zu haben und die Lieb­sten wohlauf. Ich denke über die Ver­schieden­heit von Ver­mis­sen nach. Wieso ich ger­ade jet­zt so heftig ver­misse und am Tele­fon kein Wort her­aus­bringe. Ich erin­nere mich an end­lose Tele­fonate aus Ital­ien, bei denen ich vor­wiegend über die Beschaf­fen­heit des Him­mels und die Annäherungsver­suche der Sala­man­der sprach und die Ermü­dung am anderen Ende des Hör­ers zuerst nicht wahrnahm. Wie ich meinen Rhyth­mus von März spie­lend über­nahm. Auf­ste­hen, Sport machen, lesen, am Schreibtisch herumgam­meln. Ich war zwar deut­lich pro­duk­tiv­er, als im Früh­jahr, hat­te plöt­zlich viel mehr Raum und Weite, aber nie­man­den mehr, mit dem ich über Begrüßungsworte hin­aus ver­ständi­gen kon­nte. Eine Aus­nahme waren die Kurzbe­suche von V., der mir bei jed­er Gele­gen­heit das Zitro­nen­land­lied von Goethe vortrug, wenn er kam um die Pflanzen zu wässern.

Ich stelle mir vor, die ver­moost­en Bäume vor mein­er Woh­nung wären ein Zitro­nen­garten, die Straße zum Berg, eine Pinien­allee, blät­tere in Fotos und spüre das Flir­ren der Hitze. Das Atmen wird schw­er im Nach­mit­tagswind, der den Wäschestän­der umfegt, und die Katze auf­scheucht. Ich stelle die Musik­box vor das Fen­ster und spiele Dis­co. Nach drei, vier Songs bin ich so erhitzt, dass mir schwindlig wird. Ich halte den Kopf unter kaltes Wass­er, bis es wieder geht, zupfe die staubige Wäsche aus dem Ole­an­der­baum vor dem Haus.

Als ich den Gasofen anmache, denke ich unwillkür­lich an eine mein­er früheren Woh­nun­gen in Wien. Das Ver­mis­sen set­zt wieder ein, die Großs­tadt, der Wirbel, das Bim­meln der Straßen­bah­nen. Vor dem Fen­ster ein zauberisch­er Son­nenun­ter­gang in der der fer­nen Land­schaft. Was würde ich für ein biss­chen Regen geben.

Novem­ber: Die Tage verge­hen sehr schnell. Es wird dunkel, bevor ich richtig mit der Arbeit begonnen habe. Ich kann lange nicht ein­schlafen, obwohl ich so müde bin, dass mir die Augen trä­nen. In meinen Träu­men geht stets etwas zu Bruch.

Verschwinden

Mediterranes Haus

Ich stelle mir vor, Schwal­bennester unter dem Dach zu haben, das beständi­ge Rascheln der Flügel, das Kratzen der Krallen und das ver­hal­tene Vogelflüstern. Sie wer­den nur laut, wenn sie glauben, dass ich schlafe. Sie schauen dann durch die geöffneten Fen­ster­lä­den, ich atme ruhig und öffne die Augen nur einen kleinen Spalt. Eine kleine Brise weht vom Fen­ster her, ich schlafe ohne Decke und ohne Klei­dung, dafür mit Moski­tospray einge­sprüht. Er bildet einen Film auf der Haut, die zweite Schicht über der Son­nen­creme und verklebt mir die Atemwege. Ich zäh­le die Nächte. Im Kopf einen kleinen Zettel­ka­len­der, der jeden Tag eine Seite abreißt. Mit jed­er abgeris­se­nen Seite sollte woan­ders eine Seite Geschriebenes dazukommen.

An manchen Tagen beste­hen die Doku­mente auf meinem Lap­top aber nur aus Leerzeilen.

Ich stelle mir vor, wie es sein wird, wenn ich zurück­komme. Wie es sein wird, das näch­ste Buch in den Hän­den zu hal­ten, die erste Lesung, ein reales Fes­ti­val. Ich denke, bitte, bitte, bitte, bitte. Ich stelle mir vor, wie ich son­nenge­bräunt auf­tauche, entspan­nt, als käme ich direkt vom Strand, das näch­ste Pro­jekt im Gepäck. Es ist noch nicht so weit. Ich lese mir das gesamte Manuskript selb­st noch mal laut vor, bevor ich es für den Druck frei gebe. Ich lese ein wenig für die Spin­nen und für die Eidech­sen. Ich darf nicht abschweifen, die Gedanken müssen am Text bleiben. Ich schicke meinen Fre­un­den kurze Auszüge als Sprach­nachricht­en. Ich sende.

Novem­ber: Manch­mal würde ich lieber sam­meln als senden. Aber das geht jet­zt nicht. Beim Sam­meln ver­schwindet man. Und jet­zt ger­ade kann ich nicht ver­schwinden. Nicht schon wieder, nicht wenn ohne­hin alle dage­gen ankämpfen. Gegen das Ver­schwinden, Verblassen, Vergessen. Wir ver­anstal­ten uns also weit­er selbst.

Größenwahn

Katharina

Ich stelle mir vor, wieder an einem län­geren Manuskript zu arbeit­en. An einem Text bleiben zu kön­nen, mich nicht andauernd fortzube­we­gen, um Tee zu machen oder in der Zeitung zu blät­tern oder an die Sonne zu gehen. Ich arbeite in Par­al­lel­wel­ten, die einan­der zwar Berührungspunk­te bieten, an die ich aber nicht anknüpfen kann. Ich behauptete stets, es gäbe keine Block­aden. Im Schreiben vielle­icht, im Sam­meln aber nie. Und das Sam­meln bedeute ja stets auch ein Fortschreiben, einen Beginn zu suchen für die näch­ste Geschichte. Ich suche Anfänge in anderen Büch­ern, Gedicht­bän­den vor­wiegend, manch­mal begeg­net mir auch ein Wort oder eine Zeile im Radio und endlich stellt sich die Ruhe ein, dass ich losle­gen kann. Wenn ich auf Stipendi­um bin, nehme ich mir stets vor ein Pro­jekt abzuschließen. Ich schließe dann aber nie das gewün­schte Pro­jekt ab, son­dern starte mehrere neue, die mich dann wieder Jahre beschäftigt halten.

Ich stelle mir vor, Ende Dezem­ber einen richti­gen Neustart zu wagen. Alles niedergeschrieben, fest­ge­hal­ten, freier Kopf und freie Zeit, wenn es denn dann wieder los­ge­ht, das Leben da draußen. Ein Vor­satz, den ich bere­its im Som­mer gebrochen hat­te. Die Idee klang ganz ein­fach. Immer früh aufzuste­hen und durchzuar­beit­en. Ich wäre fer­tig mit dem näch­sten Manuskript, noch bevor der jet­zige Roman in den Buch­hand­lun­gen läge. Wahrschein­lich sind das die wahren Auswirkun­gen der Ein­siedelei. Selb­stüber­schätzung gepaart mit Größen­wahn. Ein biss­chen davon braucht es vielle­icht auch, um Poet­in zu sein.

Geheimnisse

Sonnenuntergang

Ich stelle mir vor, die Sonne wärmt noch. Vielle­icht tut sie das tat­säch­lich. Zumin­d­est der Berg leuchtet mir zu, ver­lockt sich noch ein­mal einzu­pack­en, und das Haus zu ver­lassen. Es ist erstaunlich, wie viel Klei­dung man plöt­zlich braucht. Üblicher­weise reise ich immer mit leichtem Gepäck, aber nun kommt es mir vor, als nähme der Klei­der­haufen kein Ende, als würde ich ständig irgen­det­was anziehen und nie etwas aus. Ich stelle mir vor, wie es wäre, sich ab und an zu häuten, nicht nur schüp­pchen­weise oder in son­nen­brandgerecht­en Por­tio­nen, son­dern kom­plett. Die alte Haut von Zeit zu Zeit wie Bal­last abw­er­fen, Geheimnisse, die in den Poren haften, ganz ein­fach auf die Erde sinken zu lassen. Später wach­sen Ver­giss­mein­nicht daraus.

Ich stelle mir vor, wie du eine der Blu­men abpflückst und mir bei unserem näch­sten Wieder­se­hen ins Haar steckst. Es tröstet mich, dass du eines mein­er Geheimnisse gepflückt hast, auch wenn es bedeutet, dass wir uns erst im Früh­jahr tre­f­fen wer­den. Wenn die Blu­men stark genug sind, dass sie die Zug­fahrt über­leben, zusam­menge­presst in deinem Notizbuch. Wenn du es dann auf­schlägst, ent­fal­ten sich die Blät­ter. Und aus dem Stän­gel tropft frische Tinte. So mag ich sie am Lieb­sten, werde ich dir zuraunen. Die Tinte färbt deine Fin­ger und meine Haare, aber das macht mir gar nichts aus. Es fühlt sich ein biss­chen nach Meer an. Die Men­schen in der Straßen­bahn schauen pikiert. Sie riechen die salzige Brise nicht, sie spüren nicht das Schaukeln der Wellen.

Wir sum­men ein Med­ley aus allen Seefahrerliedern, die uns auf die Schnelle ein­fall­en und bleiben bei Pip­pi Langstrumpfs Seeräuberopa Fabi­an hän­gen, was natür­lich nie­mand außer uns kennt.

Novem­ber: In meinen Aufze­ich­nun­gen ent­decke ich das zer­streut­blütige Vergissmeinnicht.

Atelierlieben

Weites Feld mit kleiner Hütte

Ich stelle mir vor, in einem Kün­stler­ate­lier zu sein. Tat­säch­lich habe ich zwei Lieblingsate­liers. Eines, in dem ich trainiere und eines, in dem ich mich unter­w­erfe. Manch­mal sollte ich in meinen Blogs bess­er schwindeln, damit danach noch jemand meine Büch­er liest. In Abschieden war ich aber schon immer schlecht. Vielle­icht weil sie einem andauernd in die Quere kom­men. Die Endgültigkeit wird ihnen abge­sprochen, die Wieder­hol­ung der Erleb­nisse nahegelegt. Manch­mal darf ein Abschied aber ein­fach ein Abschied sein. Ein Nim­mer­wieder­se­hen. Ein neuer Anfang.

Ich stelle mir vor, in einem Ate­lier zu sein, weil mir die Frei­heit der Räume weit­er scheint als die Per­spek­tive meines Schreibtis­ches. Doch wenn ich nur ein­mal den Blick wende, funkelt und leuchtet es von allen Seit­en und ich ver­bringe eine Weile damit, die schrillen Lin­ien zu ver­ar­beit­en. Manch­mal bekomme ich Kopfweh von dem auf­dringlichen Funkeln wie von dem Geruch frisch aufgekochter Zimtrinde oder Rotwein. Dann wieder ver­leit­en mich die Far­ben aufzuste­hen, mich im Raum zu verän­dern, anzuschmiegen, tänzel­nde Füße. Ein kurzes Aus­trick­sen der Tas­tatur, bis der Text wieder nach mir greift. Das tägliche Schreiben lässt Wörter erstarken, die sich son­st nicht her­vor­trauen. Die Tage verkürzen sich, der All­t­ag ver­liert seine Schwere.

Novem­ber: Vor mir der Lap­top, ein aufgeschla­genes Schreib­buch, zwei Lit­er­aturzeitschriften, drei Kalen­der, ein Notizblock. Ich frage mich, wie man in diesem Chaos einen Blog schreiben kann. Ich über­lege, wann das let­zte Gewit­ter war. Ob irgend­wann Schnee kommt. Welch­es Buch ich als Näch­stes lesen soll und welche zu Wei­h­nacht­en ver­schenken. Zulet­zt ver­liebte ich mich in Bri­an Swell: Pawlowa — Oder wie man eine Eselin um die halbe Welt schmuggelt.

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