Lukas Meschik

Lukas Meschik

25.–29.01.2021

Montag, 25.01.2021
Menschen

Heute ist mir aufgefallen, dass ich seit Monaten keinen neuen Menschen mehr kennengelernt habe. Normalerweise wäre man hin und wieder auf einer Veranstaltung oder Teil einer geselligen Runde, würde dort mit jemandem sprechen, dem man zum allerersten Mal begegnet. Abgesehen vom erholsamen Sommer war es für die meisten kaum möglich, neue Kontakte zu knüpfen. Ich spreche nicht von aufdringlichem Netzwerken oder zaghaftem Flirten – obwohl auch das wegfällt, und damit Arbeitsverbindungen und Liebesmöglichkeiten. In erster Linie spreche ich von der ganz banalen Unterhaltung mit einem Fremden, die einem Einblicke in andere Lebenswirklichkeiten schenkt und den Horizont erweitert. Die soziale Vereinzelung hat Effekte, die mir erst nach und nach bewusst werden, neben der erwartbaren Vereinsamung geschieht auch eine Verarmung des Geistes. Ohne die anderen bin ich viel dümmer, als ich gern wäre.
Für Unternehmen bedeutet das vielgepriesene Homeoffice auch, dass keine Nebenbeigespräche in der Kaffeepause mehr geführt werden können. Wie entsteht Innovation? (Oder, um es in der innovativen Grammatik unserer zurückgetretenen Frau Bundesminister zu formulieren: Wenn den Vorgesetztem bei ihren Mitarbeite nicht möglich ist, wenn, wo ein Flow-Gefühl sich wird einstellen können, soll es?) Gute Ideen entstehen oft nicht einsam in den eigenen vier Wänden, sondern zwischen Tür und Angel im Plaudern mit Kollegen.
Ohne die anderen komme ich auf Dauer nicht vom Fleck. Auch für meine das lokale Weltgeschehen kommentierenden blöden Sprüche habe ich gerade viel seltener Zuhörer, weshalb ich sie – süchtig nach Bestätigung – über digitale Plattformen auf die Menschheit loslasse. Die Lage ist manchmal so ernst und aussichtslos, dass bitterer Witz die einzig sinnvolle Entgegnung darstellt.

In unserer Grundgereiztheit werden wir scheu und gehässig. Manche prahlen mit ihrer Impfbereitschaft – und erniedrigen jene, die noch zurückhaltend sind, weil sie Bedenken haben und abwarten wollen. Das empörte Einfordern von Solidarität ist ziemlich originell, wenn man bedenkt, dass noch kein Nachweis erbracht wurde, ob neben einem schweren Verlauf im eigenen Körper auch eine Weitergabe des Virus verhindert wird, was die Hersteller selbst nicht müde werden zu betonen.
Die rasche Entwicklung eines Impfstoffes ist wissenschaftlich beeindruckend, und mein Vertrauen in die Zulassungsbehörden bleibt trotz des ausgeübten politischen Drucks ungebrochen, allerdings werde ich das Gefühl nicht los, dass die Wirksamkeit – und damit verbunden die Geschwindigkeit, mit der wir uns eine Normalität zurückerobern – von vielen heillos überschätzt wird. Wenn unsere Entscheidungsträger auf dieselben Tatsachen auch in Zukunft mit dem gleichen Aktionismus reagieren, dann erleben wir nach einem abermals freundlichen Sommer im Spätherbst ein schmerzhaftes Déjà-Vu. Ich habe da bereits die eine oder andere Wette abgeschlossen, und würde mich sehr freuen, sie nicht zu gewinnen.

Wir haben verlernt, andere Meinungen zuzulassen und halten es nur noch schwer aus, einander aus respektvoller Distanz in nüchternen Worten zu kritisieren. Vielleicht steht dafür einfach zu viel auf dem Spiel – Gesundheit, Existenzen, Zukunft. Niemand hat die Vernunft für sich gepachtet, und die Moral schon gar nicht. Wer das behauptet, stellt sich selbst ins Abseits.
Ich kenne mittlerweile einige, bei denen man nicht mehr sicher sein kann, dass sie die langwierigen Einschränkungen aller Lebensbereiche unbeschadet überstehen werden. Es gibt immer mehr, für die Grundrechtseingriffe, wirtschaftliche Not und der Vertrauensverlust in demokratische Strukturen mehr Schaden anrichten, als ein Virus es je könnte. Alles bleibt eine Frage der Perspektive. Die große Pandemie steht nicht für sich – sie ist auch unsere Reaktion darauf.

Wir sollten uns dringend daran erinnern, dass jeder Mensch seine Geschichte und seine Erfahrungen hat, seinen Alltag mit eigenen Herausforderungen, seine eigenen Ängste und Pflichten. Wir alle müssen uns in einem Dickicht aus Arbeit, Beziehung, Familie und Muße zurechtfinden, wir alle beziehen Informationen, über die wir uns ein Bild von der Welt machen und aus denen wir kluge Entscheidungen ableiten wollen. Niemand muss mit allem einverstanden sein, jedem steht es frei, sich über Sinn und Unsinn von Regeln Gedanken zu machen – dass es innerhalb des Grundkonsens stattfindet, dem anderen keinen Schaden zuzufügen, ist das Fundament unserer Gesellschaft und bleibt unwidersprochen. Wir sollten freundlicher zueinander sein. Und damit meine ich auch mich.

Die Wahrheit ist doch: Bei den wichtigen Dingen sind wir uns alle einig. Wir wollen ein Leben in Freiheit, Sicherheit und Würde, für uns selbst und möglichst viele andere. Was das im Detail bedeutet, muss unentwegt neu ausverhandelt werden. Fest steht, dass wir dabei aufeinander angewiesen sind, deshalb wäre ein bisschen mehr Empathie angebracht. Empathie heißt nicht Kindergeburtstag oder händchenhaltend Friedenslieder singen. Empathie heißt: Ehrliches Interesse am Blickwinkel des anderen.
Verschwörungstheoretiker unterstellen ominösen Eliten, in Hinterzimmern finstere Pläne zu schmieden; umgekehrt unterstellen die moralisierenden Schlaumeier allen, die ihre Meinung nicht teilen, dass sie unvernünftige Dummköpfe sind. Die meisten von uns befinden sich irgendwo dazwischen – dieser Ort ist gesund, von hier aus lässt sich unsere Geschichte weitererzählen. In letzter Zeit sind Begegnungen mit Fremden etwas Seltenes und Besonderes geworden. Vielleicht sollten wir gerade deshalb nicht aufhören, uns um einander zu bemühen.
Es hilft nichts: Wir werden auch das überstehen, und wenn alles vorbei ist, dann müssen wir trotzdem noch irgendwie miteinander auskommen. Ein guter Zeitpunkt, das zu verinnerlichen, ist genau jetzt.

Dienstag, 26.01.2021
Flucht

Werkzeugboard

In Wien gibt es mehrere öffentliche Radservicestationen. Das ist, mit Verlaub, cool. Gängige Werkzeuge wie Schraubenzieher und Zangen sind an Stahlseilen befestigt und können aus einem metallenen Gehäuse gezogen werden. Auf der Unterseite hängt ein Schlauch mit Druckluft zum Befüllen der Reifen. Ich kenne ein paar leidenschaftliche Radfahrer und werde mich umhören, wem diese Stationen überhaupt bekannt sind, wem sie nützlich erscheinen und wer sie schon einmal in Anspruch genommen hat. Es gibt Dinge, die nur praktisch aussehen, es aber nicht sind.

Ich bin schon lange nicht mehr Rad gefahren und weiß darüber so gut wie gar nichts, außer wie man es schreibt. Als Fußgänger am Straßenverkehr teilzunehmen, erscheint mir schon waghalsig genug. Mich darin noch schneller zu bewegen, kommt mir ziemlich unvernünftig vor, jedenfalls als derjenige, der die Kontrolle über das Fahrzeug hat, ein Beifahrer oder Rückbanksitzer bin ich gern. Allerdings tauge ich nicht wirklich zum Navigator, meine Orientierung war schon in meiner aktiven Pfadfinderzeit legendär schlecht. Wahrscheinlich wäre es zielführender, das Gegenteil von dem zu machen, was ich vorschlage – wobei das ja wieder konsistente Ergebnisse liefern würde. Nach jemandem, der immer falsch liegt, kann man sich auch gut richten.

Der Vorteil der Langsamkeit besteht darin, dass man sich auch nur sehr langsam verirren kann. Wer mit dem Space Shuttle einmal falsch abbiegt, der landet statt am Mond plötzlich in der Umlaufbahn des Mars, und muss sich, um Treibstoff zu sparen, von der Anziehungskraft wieder zurück ins offene Weltall katapultieren lassen. Das kann dauern. Wer zehn Minuten lang irgendwo beim Margaretengürtel in die falsche Richtung läuft, weil er zu blöd ist, die Kartensoftware am Handy zu benutzen, der kehrt einfach um und lässt den lieben Gott einen guten Mann sein. Erblickt man dann noch etwas, das einem vorher unbekannt war, kommt richtiges Entdecker-Feeling auf.

Ich habe gelogen. Oder nur die halbe Wahrheit erzählt: Zwar weiß ich sehr genau, wie man „Rad fahren“ schreibt, doch um mich nicht zu weit aus dem Fenster zu lehnen und um wirklich ganz sicherzugehen (sicher zu gehen?), habe ich es online nachgeprüft – Beweis meiner Unsicherheit. Unterwegs im Internet stolpere ich über die Werbung für einen „Fluchtrucksack“. Als alter Pfadfinder klicke ich da natürlich sofort drauf. Nur zehn Euro? Das klingt verdächtig billig, schließlich finden sich in so einem Fluchtrucksack bestimmt viele nützliche Dinge wie Angelzeug und Regenschutz – vielleicht sogar der eine oder andere gefälschte Reisepass, um an irgendeinem Strand ein neues Leben als Bootsverleiher anzufangen. Leider aber handelt es sich nur um ein Buch namens „Fluchtrucksack“ mit „Survival-Wissen vom Profi“, „Packlistenvorschlägen für den Ernstfall“ und „wichtigen Fluchttipps“. Das Buch hat über dreihundert Seiten und ist in einem dubiosen Versandverlag erschienen, der für rechtsesoterische und pseudowissenschaftliche Machwerke bekannt ist. Ich würde einmal sagen, die können sich ihre Packlistenvorschläge in den Allerwertesten schieben. Eine Flucht gelingt auch so, ganz ohne Rucksack und Ratgeber. Mit dem Fahrrad, mit dem Space Shuttle – oder zu Fuß.

Mittwoch, 27.01.2021
Trotz

Prolog

1990 nahm ich im zarten Alter von zwei Jahren an einem Protest gegen den Bau der Bodensee Schnellstraße S18 teil. Diese sollte die vorarlbergische Rheintalautobahn mit den schweizerischen Autobahnen A1 und A13 verbinden, wurde jedoch von Anrainern und Umweltschützern bekämpft. Die Kundgebung fand auf der Wiener Ringstraße statt und muss sehr familienfreundlich gewesen sein. Es gibt ein Foto, auf dem ich bequem in den Armen meiner Mutter hocke und mit skeptischem Blick – oder blendet mich die Sonne? – direkt in die Kamera schaue. Wer es geschossen hat, ist nicht mehr feststellbar, die Bildkomposition halte ich jedenfalls für sehr gelungen: Links das Parlament, rechts ein gesenktes Transparent, in der Mitte ein zweites mit der Aufschrift „NEIN S18 NEIN“ – gehalten von einem unbekannten Mann, der ein junger Ulrich Mühe sein könnte –, direkt darüber die papierene Nachempfindung eines klassischen Stopp-Schildes. Was soll ich sagen: Der Bau der S18 konnte vorerst verhindert werden. Ich war mit meinem Protest also erfolgreich. So begann meine Karriere als Outlaw.

Grundrecht auf Kebab

Abends gehe ich mit einem Bekannten spazieren. Wir gehen über die Mariahilfer Straße bis zum Westbahnhof, wo gleich ein Westbahnhofgefühl aufkommt – wer den Westbahnhof kennt, weiß, was ich meine. Wir haben Hunger – ich mehr als mein Bekannter – und suchen nach Möglichkeiten. Es ist ungefähr neun Uhr, alles hat zu, nur Lieferdienste dürfen einem noch Essen nach Hause bringen. Wir klopfen bei einigen Schnellrestaurants an, erhalten stets eine Abfuhr: Unmöglich, streng verboten. Ein Schnitzelmann erbarmt sich und flüstert verschwörerisch, was wir gern hätten. Zwei Schnitzelsemmeln, sage ich. Das geht leider nicht, denn die Semmeln sind aus; ein Schnitzel mit Pommes Frites ist für unterwegs – noch dazu bei Eiseskälte – keine Lösung. Aufgeben auch nicht. Manchmal habe ich so einen Trotz-Motor laufen, der mit Hindernissen gefüttert wird und Motivationsschübe generiert.

Wir stapfen weiter durch die Bezirke, lachen über unsere recht unwürdige und provinzielle Version der Herbergssuche, die mehr eine Schnitzel- und Kebab-Suche ist. Immer wieder klopfe ich an die Türen hell erleuchteter Gaststätten, wo die Küche brummt, Lieferanten munter ein- und ausgehen. Mit einem dieser klobigen, grellen Würfel-Rucksacke wären wir besser dran. „Dürfen wir etwas zum Mitnehmen haben?“, frage ich im unterwürfigen Ton des hungrigen Bittstellers. Nichts da, nada, niente. Betretenes Kopfschütteln, einer macht die Kehlenschnitt-Geste. Da geht es wohl um Leben und Tod. Gibt es ein Grundrecht auf Kebab?

Wir erreichen die Hauptbücherei. Ein türkisches Restaurant sieht verdächtig „geöffnet“ aus, die Glasfront hat eine Durchreiche wie für Thekenverkauf. Dürfen wir? Nein. Auf hartnäckiges Nachfragen reicht uns der hinzugeeilte Chef einen Flyer: Ausnahmsweise können wir damit über die Straße gehen, von dort aus anrufen und bestellen, ein Mitarbeiter werde uns dorthin etwas liefern. Ich weiß bereits, was ich möchte, und schlage vor, gleich hier zu bestellen, was jedoch unter keinen Umständen erlaubt ist. Wir gehen über die Straße, rufen belustigt an: Zwei Kebab und ein Cola, bitte. Wir warten in einer gemütlichen Garageneinfahrt auf die Essenslieferung, wie man das als erwachsener Mensch eben so macht.

Der Kebab-Dealer kommt mit dem E-Scooter. Im Sackerl baumelt nur ein Kebab samt Cola, und der Preis ist ein anderer, als wir dachten, trotzdem bezahlen wir auch den Rest und bitten um Nachlieferung. Weil ich hungriger bin als mein Bekannter, darf ich schon einmal zu essen anfangen, bevor es kalt wird. Chillen in der Garageneinfahrt. Jetzt kommt der Flyer-Mann, hält uns ein Sackerl mit zwei Kebab und einem Cola hin. Wir sind verwirrt. Eines haben wir ja schon, sagen wir, das zweite kommt später. Des Rätsels Lösung lautet: Der Kebab-Dealer mit Scooter kam von einem anderen Stand, das Einzel-Kebab wäre für einen anderen Kunden bestimmt gewesen, wir haben es fälschlicherweise entgegengenommen. Notgedrungen bezahlen wir auch diese ursprüngliche Bestellung, das überschüssige Cola dürfen wir zurückschicken. Der Flyer-Mann rümpft verächtlich die Nase: Das Kebab des Konkurrenten sei nicht so gut wie seines.
Da rollt der Kebab-Dealer auch schon daher und bringt das versprochene Sackerl, abermals mit Cola, das wohl gratis dabei ist. „Bruder, du bist falsch!“, versucht der Flyer-Mann das Missverständnis aufzuklären, „das war für einen anderen“. Von seinem eigentlichen Kunden fehlt weiterhin jede Spur. Der Kebab-Dealer kramt in der um die Brust geschlungenen Bauchtasche, hält uns einen Zehner hin, den wir jedoch dankend ablehnen. Das hat schon alles seine Richtigkeit. Vier Kebabs sind vielleicht schlechter als zwei Kebabs, aber vier Kebabs sind auf jeden Fall besser als null Kebabs. Hungrig und kebablos weiterzustreunen, ist eine Gefahr, der wir jetzt nicht mehr ausgesetzt sind. Also packen wir die falschen Kebabs ein, und die richtigen werden verspeist, dazu schlürft jeder ein Cola. So mampfen wir zufrieden den nächtlichen Gürtel entlang und ernten von Passanten neidvolle Blicke – wo haben die das her? Das sind eben so die Abenteuer heutzutage.

Die Stadt wird unruhig. Wenn ich für jeden vollbesetzten Mannschaftswagen der Polizei, in dem acht Personen ohne Maske sitzen, ein Kebab bekäme, dann müsste ich nie wieder kochen.

Epilog

Die S18 wurde übrigens bis heute nicht gebaut.

Donnerstag, 28.01.2021
Wunder

Beim Warten auf die U-Bahn werde ich von einem älteren, sympathisch beleibten Mann angesprochen. Entschuldigung, er wolle mich nicht stören, sagt er, jedoch finde er, dass ich von hinten aussehen würde wie Carlo Acutis, falls der mir etwas sage. Tut er leider nicht. Carlo Acutis sei letzten Sommer vom Papst seliggesprochen worden. Interessant. Die U-Bahn fährt ein. Der Mann hat zwei leere Bananenschachteln neben sich abgestellt, ich hebe eine davon auf – leicht wie Luft – und trage sie in den Waggon.

Wir steigen ganz vorne ein und können mit Sicherheit nicht übersehen werden, trotzdem schießt mir die Tür auf den Handrücken, was schwarze Abriebspuren von der Gummilippe hinterlässt. Der Mann schafft es gerade noch einzusteigen. Dass ein U-Bahnfahrer schlecht aufgelegt ist, weiß man sofort, wenn er Leute absichtlich in den Türen einklemmt – manchmal lächelt er einen vorher noch verlogen an. Seit Montag müssen wir alle denselben Typ Maske tragen, als normierte Einheitsmenschen stehen wir herum, starren müde und betreten auf schnelle Displays.

Der Mann hat einen Vollbart, sein Brillengestell ist am Übergang zum Bügel notdürftig geklebt. Carlo Acutis, nuschelt er, sei bei seinem Tod erst fünfzehn gewesen. Ich verstehe ihn kaum. Irgendetwas mit eucharistischen Wundern und Leukämie. Unser Gespräch durch zwei Masken hindurch inmitten der Rumpelgeräusche einer U-Bahn gestaltet sich schwierig. Schade, denn ich erfahre etwas über Dinge, mit denen ich mich aus eigenem Antrieb kaum beschäftigen würde.
Zum Abschied gibt mir der Mann ein postkartengroßes Jesusbild, auf dessen Rückseite Gebetsauszüge stehen. Ich falte die Karte in die Hälfte und stecke sie in die Gesäßtasche meiner Hose.

Regelmäßig bekomme ich von Fremden Heiligenkärtchen und Marienanhänger geschenkt. Früher dachte ich, bei einem Atheisten (oder lauwarmen Agnostiker) sei das reine Verschwendung kirchlicher Ressourcen, doch mittlerweile halte ich es für sehr gescheit: Wer religiös ist, der glaubt ohnehin schon, den braucht man nicht mehr zu bekehren; das verlorene Schäfchen bin ja ich, und auf mich sollten sich die Missionare konzentrieren.

Später recherchiere ich zu Carlo Acutis. Er dokumentierte und katalogisierte eucharistische Wunder auf einer Website, verstarb bereits 2006. Mit der Anbindung der römisch-katholischen Kirche an die digitale Welt begann er also reichlich früh. Ich scrolle durch seitenweise Aufnahmen von ihm, kann jedoch nichts entdecken, wo er von hinten zu sehen ist. Was unsere zerstreuten Wuschelköpfe angeht, lässt sich durchaus eine gewisse Ähnlichkeit feststellen. Der Mann findet also, ich sehe aus wie ein seliggesprochener Fünfzehnjähriger – wer bin ich, ihm zu widersprechen?

Ich mache ein Foto vom Hosentaschen-Jesus mit grau schraffierten Couchbezug als Hintergrund, der halbierende Knick geht genau durch die Nasenspitze, sein Blick ist leicht vorwurfsvoll, aber insgesamt gütig vergebend. Auf dem Foto habe ich einen Finger zu viel, was an den überzähligen Fuß in der Bauernhochzeit von Pieter Bruegel dem Älteren erinnert. Es wirkt, als hätte sich einer dazugeschwindelt oder wäre mit einer Bildbearbeitungssoftware hineingedoktort worden. Bei vielen Comicfiguren – zum Beispiel den Simpsons – reichen vier Finger, alles darüber hinaus würde die sorgsam komponierte Proportion der Körper stören. Auf mich wirkt meine das Foto haltende Hand einfach grotesk. Vielleicht bin auch ich nur erfunden. Amen.

Freitag, 29.01.2021
Trost

Weihwasserflaschen

Eigentlich sollte man dichten
Über Menschen und Flucht
Über Trotz und Wunder
Übers Wetter und den hingelebten Rest
Eigentlich sollte man dichten
Um des Dichtens willen

Gedichte denken nach
Sie hören zu
Und wecken auf
Und schenken her
Und setzen frei
Und schweigen mit
Und stehen bei

Gedichte sind auch nur die besseren Menschen
Ein Maler stirbt – was hat er jetzt davon?
Eigentlich sollte man singen
Ich sing einen Gitarrensong
Mit: La la la
Und: Hey hey hey
Und: Come on, baby, let’s Rock ’n’ Roll
Let’s party all night long

Lieder heißen Fußball spielen
Ein langes Jahr und On The Road
Genierer, Trottel und Palast
Sie sind aus demselben Raumschiff gefallen
Heißen Daheimbleib-Blues und Dark
Bis es noch darker wird beim Sesseltanz
Durchsungen werden Tage leicht
Wie Schnee auf Schnee auf Schnee

Eigentlich sollte man tanzen
Wer nicht tanzt, der stirbt dem Tod voraus
Sei ehrlich, hast du heute schon
Betrunken um den Sturz getanzt?

Ja, eigentlich sollte man tanzen
Im Geheimen für sich
Oder geheimer mit anderen
Allein schon aus Prinzip
Weil man nicht darf
Im Rhythmus behutsam
Eingeforderter Berührung

Singen und tanzen
Darf man vielleicht nicht
Aber sollen sollte man
Und dichten
Wird man ja wohl noch dürfen

Eigentlich sollte man beten
Um wundersam vermehrtes
Weihwasser to go für unterwegs
Mit dem man sich den Hitzkopf kühlt
Und schweigt

Die Welt geht manchmal unter
Früher habe ich gedichtet
Sonst gibt es nichts zu erzählen

Tanzt!

Literaturhaus am Inn – Lieben, Sprechen, Fühlen, Genießen
Josef-Hirn-Straße 5
6020 Innsbruck

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