Lukas Meschik 25. – 29. 01. 2021

Montag, 25.01.2021
Menschen

Bauzaun

Heute ist mir aufge­fall­en, dass ich seit Monat­en keinen neuen Men­schen mehr ken­nen­gel­ernt habe. Nor­maler­weise wäre man hin und wieder auf ein­er Ver­anstal­tung oder Teil ein­er gesel­li­gen Runde, würde dort mit jeman­dem sprechen, dem man zum allerersten Mal begeg­net. Abge­se­hen vom erhol­samen Som­mer war es für die meis­ten kaum möglich, neue Kon­tak­te zu knüpfen. Ich spreche nicht von auf­dringlichem Net­zw­erken oder zaghaftem Flirten – obwohl auch das wegfällt, und damit Arbeitsverbindun­gen und Liebesmöglichkeit­en. In erster Lin­ie spreche ich von der ganz banalen Unter­hal­tung mit einem Frem­den, die einem Ein­blicke in andere Lebenswirk­lichkeit­en schenkt und den Hor­i­zont erweit­ert. Die soziale Vere­inzelung hat Effek­te, die mir erst nach und nach bewusst wer­den, neben der erwart­baren Vere­in­samung geschieht auch eine Ver­ar­mung des Geistes. Ohne die anderen bin ich viel düm­mer, als ich gern wäre.
Für Unternehmen bedeutet das viel­ge­priesene Home­of­fice auch, dass keine Neben­beige­spräche in der Kaf­feep­ause mehr geführt wer­den kön­nen. Wie entste­ht Inno­va­tion? (Oder, um es in der inno­v­a­tiv­en Gram­matik unser­er zurück­ge­trete­nen Frau Bun­desmin­is­ter zu for­mulieren: Wenn den Vorge­set­ztem bei ihren Mitar­beite nicht möglich ist, wenn, wo ein Flow-Gefühl sich wird ein­stellen kön­nen, soll es?) Gute Ideen entste­hen oft nicht ein­sam in den eige­nen vier Wän­den, son­dern zwis­chen Tür und Angel im Plaud­ern mit Kol­le­gen.
Ohne die anderen komme ich auf Dauer nicht vom Fleck. Auch für meine das lokale Welt­geschehen kom­men­tieren­den blö­den Sprüche habe ich ger­ade viel sel­tener Zuhör­er, weshalb ich sie – süchtig nach Bestä­ti­gung – über dig­i­tale Plat­tfor­men auf die Men­schheit loslasse. Die Lage ist manch­mal so ernst und aus­sicht­s­los, dass bit­ter­er Witz die einzig sin­nvolle Ent­geg­nung darstellt.

In unser­er Grundgereiztheit wer­den wir scheu und gehäs­sig. Manche prahlen mit ihrer Impf­bere­itschaft – und erniedri­gen jene, die noch zurück­hal­tend sind, weil sie Bedenken haben und abwarten wollen. Das empörte Ein­fordern von Sol­i­dar­ität ist ziem­lich orig­inell, wenn man bedenkt, dass noch kein Nach­weis erbracht wurde, ob neben einem schw­eren Ver­lauf im eige­nen Kör­p­er auch eine Weit­er­gabe des Virus ver­hin­dert wird, was die Her­steller selb­st nicht müde wer­den zu beto­nen.
Die rasche Entwick­lung eines Impf­stoffes ist wis­senschaftlich beein­druck­end, und mein Ver­trauen in die Zulas­sungs­be­hör­den bleibt trotz des aus­geübten poli­tis­chen Drucks unge­brochen, allerd­ings werde ich das Gefühl nicht los, dass die Wirk­samkeit – und damit ver­bun­den die Geschwindigkeit, mit der wir uns eine Nor­mal­ität zurücker­obern – von vie­len heil­los über­schätzt wird. Wenn unsere Entschei­dungsträger auf diesel­ben Tat­sachen auch in Zukun­ft mit dem gle­ichen Aktion­is­mus reagieren, dann erleben wir nach einem aber­mals fre­undlichen Som­mer im Spätherb­st ein schmerzhaftes Déjà-Vu. Ich habe da bere­its die eine oder andere Wette abgeschlossen, und würde mich sehr freuen, sie nicht zu gewinnen.

Wir haben ver­lernt, andere Mei­n­un­gen zuzu­lassen und hal­ten es nur noch schw­er aus, einan­der aus respek­tvoller Dis­tanz in nüchter­nen Worten zu kri­tisieren. Vielle­icht ste­ht dafür ein­fach zu viel auf dem Spiel – Gesund­heit, Exis­ten­zen, Zukun­ft. Nie­mand hat die Ver­nun­ft für sich gepachtet, und die Moral schon gar nicht. Wer das behauptet, stellt sich selb­st ins Abseits.
Ich kenne mit­tler­weile einige, bei denen man nicht mehr sich­er sein kann, dass sie die lang­wieri­gen Ein­schränkun­gen aller Lebens­bere­iche unbeschadet über­ste­hen wer­den. Es gibt immer mehr, für die Grun­drecht­se­in­griffe, wirtschaftliche Not und der Ver­trauensver­lust in demokratis­che Struk­turen mehr Schaden anricht­en, als ein Virus es je kön­nte. Alles bleibt eine Frage der Per­spek­tive. Die große Pan­demie ste­ht nicht für sich – sie ist auch unsere Reak­tion darauf.

Wir soll­ten uns drin­gend daran erin­nern, dass jed­er Men­sch seine Geschichte und seine Erfahrun­gen hat, seinen All­t­ag mit eige­nen Her­aus­forderun­gen, seine eige­nen Äng­ste und Pflicht­en. Wir alle müssen uns in einem Dic­kicht aus Arbeit, Beziehung, Fam­i­lie und Muße zurechtfind­en, wir alle beziehen Infor­ma­tio­nen, über die wir uns ein Bild von der Welt machen und aus denen wir kluge Entschei­dun­gen ableit­en wollen. Nie­mand muss mit allem ein­ver­standen sein, jedem ste­ht es frei, sich über Sinn und Unsinn von Regeln Gedanken zu machen – dass es inner­halb des Grund­kon­sens stat­tfind­et, dem anderen keinen Schaden zuzufü­gen, ist das Fun­da­ment unser­er Gesellschaft und bleibt unwider­sprochen. Wir soll­ten fre­undlich­er zueinan­der sein. Und damit meine ich auch mich.

Die Wahrheit ist doch: Bei den wichti­gen Din­gen sind wir uns alle einig. Wir wollen ein Leben in Frei­heit, Sicher­heit und Würde, für uns selb­st und möglichst viele andere. Was das im Detail bedeutet, muss unen­twegt neu ausver­han­delt wer­den. Fest ste­ht, dass wir dabei aufeinan­der angewiesen sind, deshalb wäre ein biss­chen mehr Empathie ange­bracht. Empathie heißt nicht Kinderge­burt­stag oder händ­chen­hal­tend Friedenslieder sin­gen. Empathie heißt: Ehrlich­es Inter­esse am Blick­winkel des anderen.
Ver­schwörungs­the­o­retik­er unter­stellen ominösen Eliten, in Hin­terz­im­mern fin­stere Pläne zu schmieden; umgekehrt unter­stellen die moral­isieren­den Schlaumeier allen, die ihre Mei­n­ung nicht teilen, dass sie unvernün­ftige Dummköpfe sind. Die meis­ten von uns befind­en sich irgend­wo dazwis­chen – dieser Ort ist gesund, von hier aus lässt sich unsere Geschichte weit­er­erzählen. In let­zter Zeit sind Begeg­nun­gen mit Frem­den etwas Seltenes und Beson­deres gewor­den. Vielle­icht soll­ten wir ger­ade deshalb nicht aufhören, uns um einan­der zu bemühen.
Es hil­ft nichts: Wir wer­den auch das über­ste­hen, und wenn alles vor­bei ist, dann müssen wir trotz­dem noch irgend­wie miteinan­der auskom­men. Ein guter Zeit­punkt, das zu verin­ner­lichen, ist genau jetzt.

Dienstag, 26.01.2021
Flucht

Werkzeugboard

In Wien gibt es mehrere öffentliche Rad­ser­vices­ta­tio­nen. Das ist, mit Ver­laub, cool. Gängige Werkzeuge wie Schrauben­zieher und Zan­gen sind an Stahl­seilen befes­tigt und kön­nen aus einem met­al­lenen Gehäuse gezo­gen wer­den. Auf der Unter­seite hängt ein Schlauch mit Druck­luft zum Befüllen der Reifen. Ich kenne ein paar lei­den­schaftliche Rad­fahrer und werde mich umhören, wem diese Sta­tio­nen über­haupt bekan­nt sind, wem sie nüt­zlich erscheinen und wer sie schon ein­mal in Anspruch genom­men hat. Es gibt Dinge, die nur prak­tisch ausse­hen, es aber nicht sind.

Ich bin schon lange nicht mehr Rad gefahren und weiß darüber so gut wie gar nichts, außer wie man es schreibt. Als Fußgänger am Straßen­verkehr teilzunehmen, erscheint mir schon waghal­sig genug. Mich darin noch schneller zu bewe­gen, kommt mir ziem­lich unvernün­ftig vor, jeden­falls als der­jenige, der die Kon­trolle über das Fahrzeug hat, ein Beifahrer oder Rück­banksitzer bin ich gern. Allerd­ings tauge ich nicht wirk­lich zum Nav­i­ga­tor, meine Ori­en­tierung war schon in mein­er aktiv­en Pfadfind­erzeit leg­endär schlecht. Wahrschein­lich wäre es zielführen­der, das Gegen­teil von dem zu machen, was ich vorschlage – wobei das ja wieder kon­sis­tente Ergeb­nisse liefern würde. Nach jeman­dem, der immer falsch liegt, kann man sich auch gut richten.

Der Vorteil der Langsamkeit beste­ht darin, dass man sich auch nur sehr langsam verir­ren kann. Wer mit dem Space Shut­tle ein­mal falsch abbiegt, der lan­det statt am Mond plöt­zlich in der Umlauf­bahn des Mars, und muss sich, um Treib­stoff zu sparen, von der Anziehungskraft wieder zurück ins offene Weltall kat­a­pul­tieren lassen. Das kann dauern. Wer zehn Minuten lang irgend­wo beim Mar­garetengür­tel in die falsche Rich­tung läuft, weil er zu blöd ist, die Karten­soft­ware am Handy zu benutzen, der kehrt ein­fach um und lässt den lieben Gott einen guten Mann sein. Erblickt man dann noch etwas, das einem vorher unbekan­nt war, kommt richtiges Ent­deck­er-Feel­ing auf.

Ich habe gel­o­gen. Oder nur die halbe Wahrheit erzählt: Zwar weiß ich sehr genau, wie man „Rad fahren“ schreibt, doch um mich nicht zu weit aus dem Fen­ster zu lehnen und um wirk­lich ganz sicherzuge­hen (sich­er zu gehen?), habe ich es online nachgeprüft – Beweis mein­er Unsicher­heit. Unter­wegs im Inter­net stolpere ich über die Wer­bung für einen „Fluchtruck­sack“. Als alter Pfadfind­er klicke ich da natür­lich sofort drauf. Nur zehn Euro? Das klingt verdächtig bil­lig, schließlich find­en sich in so einem Fluchtruck­sack bes­timmt viele nüt­zliche Dinge wie Angelzeug und Regen­schutz – vielle­icht sog­ar der eine oder andere gefälschte Reisep­a­ss, um an irgen­deinem Strand ein neues Leben als Bootsver­lei­her anz­u­fan­gen. Lei­der aber han­delt es sich nur um ein Buch namens „Fluchtruck­sack“ mit „Sur­vival-Wis­sen vom Profi“, „Pack­lis­ten­vorschlä­gen für den Ern­st­fall“ und „wichti­gen Flucht­tipps“. Das Buch hat über drei­hun­dert Seit­en und ist in einem dubiosen Ver­sand­ver­lag erschienen, der für recht­seso­ter­ische und pseudowis­senschaftliche Mach­w­erke bekan­nt ist. Ich würde ein­mal sagen, die kön­nen sich ihre Pack­lis­ten­vorschläge in den Aller­w­ertesten schieben. Eine Flucht gelingt auch so, ganz ohne Ruck­sack und Rat­ge­ber. Mit dem Fahrrad, mit dem Space Shut­tle – oder zu Fuß.

Mittwoch, 27.01.2021
Trotz

Demofoto

Pro­log

1990 nahm ich im zarten Alter von zwei Jahren an einem Protest gegen den Bau der Bodensee Schnell­straße S18 teil. Diese sollte die vorarl­ber­gis­che Rhein­ta­lau­to­bahn mit den schweiz­erischen Auto­bah­nen A1 und A13 verbinden, wurde jedoch von Anrain­ern und Umweltschützern bekämpft. Die Kundge­bung fand auf der Wiener Ringstraße statt und muss sehr fam­i­lien­fre­undlich gewe­sen sein. Es gibt ein Foto, auf dem ich bequem in den Armen mein­er Mut­ter hocke und mit skep­tis­chem Blick – oder blendet mich die Sonne? – direkt in die Kam­era schaue. Wer es geschossen hat, ist nicht mehr fest­stell­bar, die Bild­kom­po­si­tion halte ich jeden­falls für sehr gelun­gen: Links das Par­la­ment, rechts ein gesenk­tes Trans­par­ent, in der Mitte ein zweites mit der Auf­schrift „NEIN S18 NEIN“ – gehal­ten von einem unbekan­nten Mann, der ein junger Ulrich Mühe sein kön­nte –, direkt darüber die papierene Nachempfind­ung eines klas­sis­chen Stopp-Schildes. Was soll ich sagen: Der Bau der S18 kon­nte vor­erst ver­hin­dert wer­den. Ich war mit meinem Protest also erfol­gre­ich. So begann meine Kar­riere als Outlaw.

Grun­drecht auf Kebab

Abends gehe ich mit einem Bekan­nten spazieren. Wir gehen über die Mari­ahil­fer Straße bis zum West­bahn­hof, wo gle­ich ein West­bahn­hofge­fühl aufkommt – wer den West­bahn­hof ken­nt, weiß, was ich meine. Wir haben Hunger – ich mehr als mein Bekan­nter – und suchen nach Möglichkeit­en. Es ist unge­fähr neun Uhr, alles hat zu, nur Liefer­di­en­ste dür­fen einem noch Essen nach Hause brin­gen. Wir klopfen bei eini­gen Schnell­restau­rants an, erhal­ten stets eine Abfuhr: Unmöglich, streng ver­boten. Ein Schnitzel­mann erbarmt sich und flüstert ver­schwörerisch, was wir gern hät­ten. Zwei Schnitzelsem­meln, sage ich. Das geht lei­der nicht, denn die Sem­meln sind aus; ein Schnitzel mit Pommes Frites ist für unter­wegs – noch dazu bei Eis­eskälte – keine Lösung. Aufgeben auch nicht. Manch­mal habe ich so einen Trotz-Motor laufen, der mit Hin­dernissen gefüt­tert wird und Moti­va­tion­ss­chübe generiert.

Wir stapfen weit­er durch die Bezirke, lachen über unsere recht unwürdi­ge und prov­inzielle Ver­sion der Her­bergssuche, die mehr eine Schnitzel- und Kebab-Suche ist. Immer wieder klopfe ich an die Türen hell erleuchteter Gast­stät­ten, wo die Küche brummt, Liefer­an­ten munter ein- und aus­ge­hen. Mit einem dieser klo­bi­gen, grellen Wür­fel-Ruck­sacke wären wir bess­er dran. „Dür­fen wir etwas zum Mit­nehmen haben?“, frage ich im unter­wür­fi­gen Ton des hun­gri­gen Bittstellers. Nichts da, nada, niente. Betretenes Kopf­schüt­teln, ein­er macht die Kehlen­schnitt-Geste. Da geht es wohl um Leben und Tod. Gibt es ein Grun­drecht auf Kebab?

Wir erre­ichen die Haupt­bücherei. Ein türkisches Restau­rant sieht verdächtig „geöffnet“ aus, die Glas­front hat eine Durchre­iche wie für Theken­verkauf. Dür­fen wir? Nein. Auf hart­näck­iges Nach­fra­gen reicht uns der hinzugeeilte Chef einen Fly­er: Aus­nahm­sweise kön­nen wir damit über die Straße gehen, von dort aus anrufen und bestellen, ein Mitar­beit­er werde uns dor­thin etwas liefern. Ich weiß bere­its, was ich möchte, und schlage vor, gle­ich hier zu bestellen, was jedoch unter keinen Umstän­den erlaubt ist. Wir gehen über die Straße, rufen belustigt an: Zwei Kebab und ein Cola, bitte. Wir warten in ein­er gemütlichen Gara­gene­in­fahrt auf die Essensliefer­ung, wie man das als erwach­sen­er Men­sch eben so macht.

Der Kebab-Deal­er kommt mit dem E‑Scooter. Im Sack­erl baumelt nur ein Kebab samt Cola, und der Preis ist ein ander­er, als wir dacht­en, trotz­dem bezahlen wir auch den Rest und bit­ten um Nach­liefer­ung. Weil ich hun­griger bin als mein Bekan­nter, darf ich schon ein­mal zu essen anfan­gen, bevor es kalt wird. Chillen in der Gara­gene­in­fahrt. Jet­zt kommt der Fly­er-Mann, hält uns ein Sack­erl mit zwei Kebab und einem Cola hin. Wir sind ver­wirrt. Eines haben wir ja schon, sagen wir, das zweite kommt später. Des Rät­sels Lösung lautet: Der Kebab-Deal­er mit Scoot­er kam von einem anderen Stand, das Einzel-Kebab wäre für einen anderen Kun­den bes­timmt gewe­sen, wir haben es fälschlicher­weise ent­ge­gengenom­men. Notge­drun­gen bezahlen wir auch diese ursprüngliche Bestel­lung, das über­schüs­sige Cola dür­fen wir zurückschick­en. Der Fly­er-Mann rümpft verächtlich die Nase: Das Kebab des Konkur­renten sei nicht so gut wie seines.
Da rollt der Kebab-Deal­er auch schon daher und bringt das ver­sproch­ene Sack­erl, aber­mals mit Cola, das wohl gratis dabei ist. „Brud­er, du bist falsch!“, ver­sucht der Fly­er-Mann das Missver­ständ­nis aufzuk­lären, „das war für einen anderen“. Von seinem eigentlichen Kun­den fehlt weit­er­hin jede Spur. Der Kebab-Deal­er kramt in der um die Brust geschlun­genen Bauch­tasche, hält uns einen Zehn­er hin, den wir jedoch dank­end ablehnen. Das hat schon alles seine Richtigkeit. Vier Kebabs sind vielle­icht schlechter als zwei Kebabs, aber vier Kebabs sind auf jeden Fall bess­er als null Kebabs. Hun­grig und kebab­los weit­erzus­tre­unen, ist eine Gefahr, der wir jet­zt nicht mehr aus­ge­set­zt sind. Also pack­en wir die falschen Kebabs ein, und die richti­gen wer­den ver­speist, dazu schlürft jed­er ein Cola. So mampfen wir zufrieden den nächtlichen Gür­tel ent­lang und ern­ten von Pas­san­ten nei­d­volle Blicke – wo haben die das her? Das sind eben so die Aben­teuer heutzutage.

Die Stadt wird unruhig. Wenn ich für jeden vollbe­set­zten Mannschaftswa­gen der Polizei, in dem acht Per­so­n­en ohne Maske sitzen, ein Kebab bekäme, dann müsste ich nie wieder kochen.

Epi­log

Die S18 wurde übri­gens bis heute nicht gebaut.

Donnerstag, 28.01.2021
Wunder

Jesusbildchen

Beim Warten auf die U‑Bahn werde ich von einem älteren, sym­pa­thisch beleibten Mann ange­sprochen. Entschuldigung, er wolle mich nicht stören, sagt er, jedoch finde er, dass ich von hin­ten ausse­hen würde wie Car­lo Acutis, falls der mir etwas sage. Tut er lei­der nicht. Car­lo Acutis sei let­zten Som­mer vom Papst seligge­sprochen wor­den. Inter­es­sant. Die U‑Bahn fährt ein. Der Mann hat zwei leere Bana­nen­schachteln neben sich abgestellt, ich hebe eine davon auf – leicht wie Luft – und trage sie in den Waggon.

Wir steigen ganz vorne ein und kön­nen mit Sicher­heit nicht überse­hen wer­den, trotz­dem schießt mir die Tür auf den Han­drück­en, was schwarze Abrieb­spuren von der Gum­milippe hin­ter­lässt. Der Mann schafft es ger­ade noch einzusteigen. Dass ein U‑Bahnfahrer schlecht aufgelegt ist, weiß man sofort, wenn er Leute absichtlich in den Türen ein­klemmt – manch­mal lächelt er einen vorher noch ver­logen an. Seit Mon­tag müssen wir alle densel­ben Typ Maske tra­gen, als normierte Ein­heits­men­schen ste­hen wir herum, star­ren müde und betreten auf schnelle Displays.

Der Mann hat einen Voll­bart, sein Bril­lengestell ist am Über­gang zum Bügel not­dürftig gek­lebt. Car­lo Acutis, nuschelt er, sei bei seinem Tod erst fün­fzehn gewe­sen. Ich ver­ste­he ihn kaum. Irgen­det­was mit eucharis­tis­chen Wun­dern und Leukämie. Unser Gespräch durch zwei Masken hin­durch inmit­ten der Rumpel­geräusche ein­er U‑Bahn gestal­tet sich schwierig. Schade, denn ich erfahre etwas über Dinge, mit denen ich mich aus eigen­em Antrieb kaum beschäfti­gen würde.
Zum Abschied gibt mir der Mann ein postkarten­großes Jesus­bild, auf dessen Rück­seite Gebet­sauszüge ste­hen. Ich falte die Karte in die Hälfte und stecke sie in die Gesäß­tasche mein­er Hose.

Regelmäßig bekomme ich von Frem­den Heili­genkärtchen und Marien­an­hänger geschenkt. Früher dachte ich, bei einem Athe­is­ten (oder lauwar­men Agnos­tik­er) sei das reine Ver­schwen­dung kirch­lich­er Ressourcen, doch mit­tler­weile halte ich es für sehr gescheit: Wer religiös ist, der glaubt ohne­hin schon, den braucht man nicht mehr zu bekehren; das ver­lorene Schäfchen bin ja ich, und auf mich soll­ten sich die Mis­sion­are konzentrieren.

Später recher­chiere ich zu Car­lo Acutis. Er doku­men­tierte und kat­a­l­o­gisierte eucharis­tis­che Wun­der auf ein­er Web­site, ver­starb bere­its 2006. Mit der Anbindung der römisch-katholis­chen Kirche an die dig­i­tale Welt begann er also reich­lich früh. Ich scrolle durch seit­en­weise Auf­nah­men von ihm, kann jedoch nichts ent­deck­en, wo er von hin­ten zu sehen ist. Was unsere zer­streuten Wuschelköpfe ange­ht, lässt sich dur­chaus eine gewisse Ähn­lichkeit fest­stellen. Der Mann find­et also, ich sehe aus wie ein seligge­sproch­en­er Fün­fzehn­jähriger – wer bin ich, ihm zu widersprechen?

Ich mache ein Foto vom Hosen­taschen-Jesus mit grau schraf­fierten Couch­bezug als Hin­ter­grund, der hal­bierende Knick geht genau durch die Nasen­spitze, sein Blick ist leicht vor­wurfsvoll, aber ins­ge­samt gütig vergebend. Auf dem Foto habe ich einen Fin­ger zu viel, was an den überzäh­li­gen Fuß in der Bauern­hochzeit von Pieter Bruegel dem Älteren erin­nert. Es wirkt, als hätte sich ein­er dazugeschwindelt oder wäre mit ein­er Bild­bear­beitungssoft­ware hineinge­dok­tort wor­den. Bei vie­len Comic­fig­uren – zum Beispiel den Simp­sons – reichen vier Fin­ger, alles darüber hin­aus würde die sorgsam kom­ponierte Pro­por­tion der Kör­p­er stören. Auf mich wirkt meine das Foto hal­tende Hand ein­fach grotesk. Vielle­icht bin auch ich nur erfun­den. Amen.

Freitag, 29.01.2021
Trost

Weihwasserflaschen

Eigentlich sollte man dicht­en
Über Men­schen und Flucht
Über Trotz und Wun­der
Übers Wet­ter und den hin­gelebten Rest
Eigentlich sollte man dicht­en
Um des Dicht­ens willen

Gedichte denken nach
Sie hören zu
Und weck­en auf
Und schenken her
Und set­zen frei
Und schweigen mit
Und ste­hen bei

Gedichte sind auch nur die besseren Men­schen
Ein Maler stirbt – was hat er jet­zt davon?
Eigentlich sollte man sin­gen
Ich sing einen Gitar­ren­song
Mit: La la la
Und: Hey hey hey
Und: Come on, baby, let’s Rock ’n’ Roll
Let’s par­ty all night long


Lieder heißen Fußball spie­len
Ein langes Jahr und On The Road
Genier­er, Trot­tel und Palast
Sie sind aus dem­sel­ben Raum­schiff gefall­en
Heißen Dahe­im­bleib-Blues und Dark
Bis es noch dark­er wird beim Ses­seltanz
Durch­sun­gen wer­den Tage leicht
Wie Schnee auf Schnee auf Schnee 

Eigentlich sollte man tanzen
Wer nicht tanzt, der stirbt dem Tod voraus
Sei ehrlich, hast du heute schon
Betrunk­en um den Sturz getanzt? 

Ja, eigentlich sollte man tanzen
Im Geheimen für sich
Oder geheimer mit anderen
Allein schon aus Prinzip
Weil man nicht darf
Im Rhyth­mus behut­sam
Einge­fordert­er Berührung 

Sin­gen und tanzen
Darf man vielle­icht nicht
Aber sollen sollte man
Und dicht­en
Wird man ja wohl noch dürfen 

Eigentlich sollte man beten
Um wun­der­sam ver­mehrtes
Wei­h­wass­er to go für unter­wegs
Mit dem man sich den Hitzkopf kühlt
Und schweigt

Die Welt geht manch­mal unter
Früher habe ich gedichtet
Son­st gibt es nichts zu erzählen 

Tanzt!

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