Das Montagsfrühstück im Mai wäre der Frage nach dem Verhältnis von Leben, Werk und Wirklichkeit nachgegangen: Inwieweit und in welcher Form ‚transformieren‘ Autorinnen und Autoren in ihren Texten persönliche und gesellschaftliche Realitäten zu literarischer Fiktion? Und wie begegnen wir als RezipientInnen diesem Phänomen? Soll klar zwischen AutorInnenbiographie, ‑meinung und Werk unterschieden werden? Und wer darf dann über wen schreiben? Dürfen sich AutorInnen die Erfahrungen anderer in ihrem Werk zu eigen machen? Wenn nein, was hat das für Folgen für die Fiktionalität? Werden literarische Texte wegen ihrer Fiktionalität gar suspekt?
All diese Fragen haben vor dem Hintergrund der vergangenen Monate an Besonderheit und Aktualität gewonnen, und es ist sehr schön, dass die Schriftstellerin Bettina Balàka und der Komparatist Martin Sexl unserer Einladung gefolgt sind, einen Text dazu zu verfassen und ihn uns und den Leserinnen und Lesern zur Verfügung zu stellen.
Lesen Sie also Bettina Balàkas Essay Der Indianer in uns und Martin Sexls Briefessay Warum wir nicht nur Virologie und Epidemiologie benötigen, um Politik zu machen, sondern auch Literatur und Kunst – und denken Sie bei Kaffee und einem Croissant an uns!
DER INDIANER IN UNS – SCHRIFTSTELLER UND DIE WIRKLICHKEIT von Bettina Balàka
LEBEN
Die interessanteste Verwechslung zwischen mir selbst und einer meiner Romanfiguren erlebte ich bei meinem Roman „Kassiopeia“. Judit Kalman, die Protagonistin, ist dank ihres in der Wirtschaftswunderzeit reich gewordenen Vaters materiell so gut versorgt, dass sie in erheblichem Luxus lebt und nicht zu arbeiten braucht. Prompt erhielt ich nach Erscheinen des Buches permanent die Frage – in Interviews, bei Lesungen usw. – ob mir denn ebenfalls dieses beneidenswerte Schicksal zuteil geworden sei. Man hatte sich, wie es schien, blitzschnell die Fantasie zurecht gelegt, dass ich eine Schriftstellerin sei, die aus bloßer Neigung schreibe und nicht mindestens ebenso aus der Notwendigkeit, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Man stellte sich vor, ich würde wie Judit Kalman erster Klasse in der Welt herumjetten und mir finanziell schrankenlos alles gönnen, was mir gefiel. Leider nicht, konnte ich da nur sagen.
Doch das war noch nicht alles. Judit Kalman hat eine leicht verbrecherische Ader, indem sie nach allen Regeln der Kunst einen Schriftsteller stalkt. Ich recherchierte gründlich und sah mir genau die Techniken an, auf die reale Stalker bereits verfallen waren. Offenbar war das Ergebnis überzeugend. Denn nach der Frage nach meinem vermeintlichen Reichtum war häufig die nächste die, ob ich denn etwa auch schon mal einen Mann gestalkt hätte. Ich verwies auf meinen Roman „Eisflüstern“, in dem jemand auf fantasievolle Weise ein halbes Dutzend Morde begeht, und stellte die Gegenfrage, ob man denn auch vermute, ich hätte all diese bizarren Grausamkeiten begangen.
Unter dem Strich hatte ich mit Judit Kalman nur das Geschlecht gemeinsam und vielleicht grob die Altersgruppe, wenngleich ich um etliche Jahre älter war als sie. Dass sie reich ist, war auf zwei Gründe zurückzuführen. Zum einen wurde mir bei meinen Recherchen über Stalking klar, dass es sich um ein äußerst zeitaufwendiges Verbrechen handelt. Richtig intensive Stalker haben daher oft keinen Job. Nun wollte ich meine Protagonistin aber nicht von der Sozialhilfe leben lassen, was ihre Möglichkeiten ja einschränken würde, vielmehr sollte sie von finanziellen Überlegungen ungebremst ihrem Liebeswahn nachgehen können. Der zweite Grund ergab sich schnell, indem ich mir diese Möglichkeiten auszumalen begann: Es machte mir Spaß, denn es befreite mich aus meiner tatsächlich prekären Realität, die die einer alleinerziehenden Schriftstellerin war, die sich mehr schlecht als recht durchschlug. Es hätte mir keine Freude gemacht, über jemanden zu schreiben, der jeden Cent drei Mal umdrehen muss, denn dann hätte ich nur meinen Alltag gedoppelt, so aber konnte ich in meiner Fantasie daraus entfliehen.
Was das Stalking betrifft, so hatte ich es in meinem Leben mehrfach selbst erlebt, in der passiven Form. Die Rollenumkehr im Buch könnte man psychologisch vielleicht als eine Art Empowerment-Versuch ansehen, als Bewältigungsstrategie. Eigentlich aber ging es mir um Frauen wie Adèle Hugo, die romantischer Besessenheit verfielen.
Wie man sieht, kann manches ganz anders sein, als man denkt, und oft ist es auch das Gegenteil. Auch „Kassiopeia“ birgt am Ende noch eine ziemliche Überraschung, was das Verhältnis von Stalkerin und Gestalktem betrifft.
Es gibt in der Literaturgeschichte berühmte Beispiele für den Kontrast von Leben und Werk. Jane Austen etwa, die Meisterin des „courtship plots“, hatte selbst nicht das Glück, den Prozess des Findes der großen Liebe bis hin zur Hochzeit zu durchlaufen. Vielleicht erschien ihr die Ehe auch gar nicht so reizvoll, denn zumindest ein von ihr abgelehnter Antrag ist verbürgt. Ab ihrem dreißigsten Lebensjahr soll sie durch das Tragen entsprechender Kleidung signalisiert haben, dass sie am Heiratsmarkt nicht mehr zur Verfügung stand.
Im Fall eines Romanes ist es eigentlich einfach, von Fiktion auszugehen, denn er ist per definitionem Fiktion. Anders aber sieht es aus, wenn der Schriftsteller seine eigene Biografie verfälscht. So gab der in Wien-Breitensee geborene H. C. Artmann bisweilen seinen Geburtsort als „St. Achatz am Walde“ an, was unüberprüft in so manchen Klappentext geriet. Ein spezieller Fall ist Karl May, der sich so sehr in seine Geschichten verstieg, dass er behauptete, Old Shatterhand zu sein, und sich von einem Kötzschenbrodaer Büchsenmacher die legendären Gewehre seiner Romanhelden –„Bärentöter“, „Silberbüchse“ und „Henrystutzen“ – anfertigen ließ. Natürlich beförderte dieser Mythos auch den Verkauf, und so wurden Leseranfragen an den Verlag in diesem Sinne beantwortet.
WERK
Die im Herbst 2019 erschienene Amazon-Serie „Hunters“ mit Al Pacino, in der es um eine Gruppe von Nazi-Jägern in den Siebzigerjahren in den USA geht, gab Anlass zu einer auch für Schriftsteller interessanten Diskussion. Grund dafür war folgende Szene: KZ-Insassen stehen auf einer Wiese, die mit Hilfe von eingetrampelten hellen und dunklen Quadraten als überdimensioniertes Schachbrett gestaltet wurde, als Figuren. Ein Lagerkommandant spielt gegen einen jüdischen Häftling. Jedes Mal, wenn eine Figur geschlagen wird, muss der sie repräsentierende Häftling mit einem Messer abgemetzelt werden. Links und rechts des Schachbrettes häufen sich die Leichen.
Das Problem ist: Dergleichen ist nie passiert. Bei all den sadistischen Perfidien, die sich die Nazis einfallen haben lassen, war diese nicht dabei. Auch wenn die Szene per se nicht revisionistisch ist, die Verbrechen nicht leugnet, sondern ihnen nur ein weiteres, fiktives hinzufügt, könnte genau das im Endeffekt doch zu Revisionismus führen. Denn wenn man geglaubt hat, dass das wirklich passiert ist, und dann erfährt, dass es sich um bloße Erfindung handelt – warum sollte man dann noch irgendwas von dem glauben, was man über die Konzentrationslager hört? So meldete sich unter anderem die Auschwitzgedenkstätte zu Wort: Man müsse bei den Fakten präzise bleiben, um die Opfer und ihre Geschichten zu ehren, und um nicht Holocaust-Leugnern eine implizite Legitimation ihrer Theorien zu liefern. Geht es um historische Fakten, stößt die Fiktion hier an ihre Grenzen.
Ein weiterer Diskussionsfall war Peter Handke, der wie Karl May „die Indianer“ als Projektionsfläche verwendete. Die Belagerung Sarajevos beschrieb er so, dass die Truppen der Republika Srpska als Freiheitskämpfer gedeutet wurden: „Erscheinen nicht auch in den Western die bösen Indianer oben auf den Felsklippen, die friedlichen Ami-Karawanen überfallend und metzelnd – und kämpfen die Indianer nicht doch um ihre Freiheit?“ Die Projektion deflektiert von den Indianern auf „die Serben“, für Handke die edlen Wilden Europas: „Wird man einmal, bald, wer?, die Serben von Bosnien auch als solche Indianer entdecken?“
Der Gestus des tastenden Fragens verschleiert nicht, dass es sich hier um eine ziemlich starke Insinuation handelt. Dabei greift Handke die Fiktion vom Western-Indianer an und erhebt im selben Moment die Fiktion vom edlen Balkan-Indianer zur (doch auch möglichen?) Realität. Er ist stolz darauf, das filmische Klischee zu durchschauen und überträgt dieses berechtigte Anzweifeln auf eine völlig andere Situation. Die Berichterstattung der Medien hat für ihn denselben Stellenwert wie ein Hollywood-Drehbuch: alles Erfindung, alles Propaganda.
Auch hier sind real existierende Menschen betroffen, die ehemaligen Eingeschlossenen von Sarajevo, die sich gegen ein solches Infragestellen des von ihnen Erlebten wehren.
Die Behauptung, Literatur könne eine „höhere Wahrheit“ aufzeigen, ist einerseits richtig und andererseits heikel. Richtig ist sie in dem Sinne, dass Literatur uns die Augen öffnen und einen Erkenntnisgewinn bescheren kann. Im Falle völligen Realitätsverlustes dagegen gebärdet sie sich unter Umständen wie eine Religion. Die Erde ist viele Millionen Jahre alt? Nein, die höhere Wahrheit ist, sie ist erst ein paar tausend Jahre alt.
Das besonders Heikle bei Schriftstellern ist, dass sie haarsträubenden Unfug oft sehr schön auszudrücken vermögen. Ist das Geraune nur gülden genug, wird es verführerisch. Darf man es nicht mehr hinterfragen, weil Literatur sakrosankt ist, ist man nicht weit vom religiösen Führer entfernt, der in den Augen seiner Anhänger zwangsläufig recht hat, weil er so schön zu predigen vermag.
WIRKLICHKEIT
„Wer nichts weiß, muss alles glauben“, lautet ein Aphorismus von Marie von Ebner-Eschenbach. In den Naturwissenschaften wird Wissen durch ständiges Hinterfragen etabliert. Doch Falsifikation und Diskursanalyse bedeuten nicht, dass alles irgendwie relativ ist, dass jeder selbst bestimmen kann, was Wissenschaft ist, dass es am Ende keine Fakten gibt. Es kommt nicht von ungefähr, dass der Glaube von einem Nebeneinander an mehreren „alternativen Fakten“ besonders in den USA um sich greift, wo an manchen Schulen neben (oder statt) der Evolutionstheorie auch die Schöpfungsgeschichte unterrichtet wird. Die ersten Siedler waren oft Mitglieder religiöser Gruppierungen, die in Europa verfolgt wurden. Die daraus erwachsene schöne Tradition der Religionsfreiheit führt jedoch in ihren extremsten Auswüchsen dazu, dass die Wissenschaft als etwas angesehen wird, was man einfach hinwegglauben kann. Klimawandel? Glaub ich nicht. Corona? Glaub ich nicht. CNN-Berichte? Glaub ich nicht.
In einer solchen Welt gibt es keinen Halt mehr. Verschwörungstheorien stehen auf einer Ebene mit seriösem Journalismus, demokratisch gewählte Politiker halten sich für Ärzte und regen die Injektion von Desinfektionsmitteln an oder schütteln die Hände von Covid-19-Infizierten. In einer solchen Welt tun Schriftsteller gut daran, Fiktion als solche klar zu deklarieren und nicht in Formen zu überführen, wo man sie für wahr hält und damit am Ende die Wahrheit für Erfindung.
Denn gerade Schriftsteller wissen genau, wo sie welches Element der Realität adaptieren, um es für einen literarischen Text nutzbar zu machen. So werden fiktionale Charaktere oft aus realen „gemorpht“. Man nimmt die Optik des einen, den Beruf des anderen, die Pingeligkeit des dritten und legt ihm ein schönes Zitat der Schwiegermutter in den Mund. Männer schreiben über Frauen, Frauen über Männer, Fünfzigjährige über Kinder, Zeitgenossen über historische Figuren, Arme über Reiche (oder noch viel Ärmere), Menschen, die keiner Fliege etwas zuleide tun können, über Mörder. Auch wenn ein Bonmot behauptet, man solle nur über Dinge schreiben, die man wirklich gut kennt, ist das kaum durchzuhalten, denn dann würden Schriftsteller nur über Schriftsteller schreiben.
Man eignet sich zwangsläufig fremde Realitäten an und kann dabei durchaus in kritisches Fahrwasser geraten. Wer auch immer der Herr war, der die Freuden der minderjährigen Mutzenbacher aus ihrer Perspektive verfasste, hat seine Wunschfantasien projiziert. Alexandre Dumas beschrieb die Kameliendame zwar tragisch, aber doch glamourös. Ein wesentlich deprimierenderes Bild der Prostitution im neunzehnten Jahrhundert lässt sich in den weitgehend vergessenen Büchern von Frauen nachlesen: „Der heilige Skarabäus“ von Else Jerusalem oder „Tagebuch einer Verlorenen“ von Margarethe Böhme.
Auch stellt sich die Frage der kulturellen Appropriation. Heutzutage würde sich wohl niemand mehr anmaßen, über die Erfahrung eines Native American zu schreiben, ohne selbst einer zu sein. Wo genau die Grenzen zu ziehen sind, wird immer wieder neu diskutiert und muss wohl jeder Autor für sich entscheiden. So wurde etwa Jeffrey Eugenides nach dem Erscheinen seines Romanes „Middlesex“ dafür kritisiert, dass er sich die Erfahrung einer intersexuellen Person vorgestellt hatte.
Dabei kann die Zeit die Grenzen verschieben. Mit zunehmender Gleichberechtigung nahm die Diskussion ab, ob Männer weibliche Standpunkte glaubwürdig darstellen können. Ebenso wären in den Achtzigerjahren Hetero-Autoren, die aus der Perspektive schwuler Protagonisten schreiben, zumindest fragwürdig gewesen, heute regt das kaum jemanden mehr auf. Nicht nur ist das Fluktuieren in der sexuellen Orientierung leichter geworden, die Situation Homosexueller in unserem Kulturkreis hat sich in den letzten Jahrzehnten auch deutlich entspannt. Je traumatischer die reale Erfahrung der Betroffenen, desto problematischer die Appropriation.
Einer der grundlegendsten Unterschiede zwischen Fiktion und Leben ist, dass im narrativen Konstrukt alles einen Sinn hat. Im wahren Leben verlaufen die Dinge anders. Da hängt vielleicht im ersten Akt ein Gewehr an der Wand, das nicht spätestens im dritten abgefeuert wird. Eine Begegnung im Zug treibt die fiktive Geschichte voran, während sie in der Wirklichkeit mit hoher Wahrscheinlichkeit im Sande verläuft. Auch der Faktor Zeit verhält sich anders. Im Roman sind zwei oder zehn oder zwanzig Jahre mühelos zu überspringen. Man kann leidige Alltäglichkeiten, wie Putzen oder Aufsklogehen, ausklammern, muss es sogar. Sex im Film geht ganz schnell, er muss ökonomisch sein. Fünfundvierzig Minuten Vorspiel würden eine Neunzig-Minuten-Geschichte sprengen. Die Leute reißen sich daher meistens nach kurzem Kuss die Kleider vom Leib. Auch sterben in einem Buch oder Film die Menschen nicht wirklich. Man braucht nur zurück zum Anfang zu gehen, und sie sind wieder da.
Permanenter Fiktionskonsum birgt die subtile Gefahr, dass zwischen Realität und Erfundenem nicht mehr genau unterschieden wird. Wer zu viele Liebesgeschichten gelesen hat, ist mitunter frustriert, wenn ihm solche perfekten Wunder vorenthalten werden. Wer zu viele Pandemiefilme gesehen hat, glaubt vielleicht nicht mehr, dass so etwas wirklich passieren kann – die reale Pandemie steht dann für ihn auf einer Glaubwürdigkeitsebene mit der Zombie-Apokalypse. Wer zu viele Überwachungsstaatdystopien konsumiert hat, beschäftigt sich gar nicht mehr mit der Frage, ob eine konkrete Contact-Tracing-App tatsächlich so funktioniert wie in diesen (oder damit, dass keine teuflische Regierung der Welt ihre Bürger dazu bringen müsste, eine App zu installieren, um auf Bewegungsdaten zuzugreifen oder Gespräche abzuhören – das geht nämlich auch so.)
Das narrative Konstrukt hat den Vorteil, dass es in kurzer Zeit einen Bogen spannt, eine Handlung entwirft, zum Höhepunkt und zum Ende führt – anders als das wirkliche Leben, das vom Zufall gebeutelt auf und ab schaukelt. Die bereichernde, erhebende und manchmal sogar therapeutische Qualität guter Literatur beruht ja sogar darauf, dass sie in diesem Sinne „besser“ als die Wirklichkeit ist. Deshalb tut ein Realitätsabgleich gut, auch beim Lesen, und das ist unterschiedlich schwer. Jedem ist klar, dass am Attersee nicht wirklich so viele Menschen ermordet werden wie im österreichischen Krimi. Aber es gibt in unserem Leben keinen großen Erzähler, der am Ende die Fäden sinnvoll zusammenführt. (Genau dieses zutiefst menschliche Bedürfnis nach einem solchen Erzähler, der unser Schicksal kennt und einen Plan für uns hat, begründet den Reiz der Religion.) Und so kann das Lesen allzu vieler Geschichten dazu führen, dass man ein bisschen enttäuscht ist, dass sich im eigenen Leben nicht immer alles so fügt.
Für uns Schriftsteller bedeutet das, dass wir in unserer Arbeit darauf achten müssen, dass die Schnittstellen zwischen Erfindung und Realität sauber bleiben. Wir müssen davon Abstand nehmen, die gestalterische Macht, die uns durch eine Fiktion hindurchträgt, auf andere Bereiche ausdehnen zu wollen. Die Freiheit der Kunst anzurufen, wenn es um faktische Behauptungen geht, ist zumindest unlauter. Denn die Wirklichkeit umschreiben können wir nicht.
Martin Sexl: Warum wir nicht nur Virologie und Epidemiologie benötigen, um Politik zu machen, sondern auch Literatur und Kunst
Liebe Anna,
Du hast mich vor geraumer Zeit gefragt, ob ich anstelle eines Statements für das Montagsfrühstück im Mai 2020, das nun nicht stattfinden kann, einen schriftlichen Text verfassen möchte. Das Schreiben mag ich ja an und für sich lieber als das Reden, aber beim Nachdenken über das Thema, über den nicht stattfindenden Vormittag (mit einem Publikum bei Kaffee) sowie über die nun verpasste Begegnung mit Bettina Balàka wurde mir bewusst, dass eine lebendige Diskussion mit Menschen, die sich mit ihrem Körper, einem Lächeln, einer gerunzelten Stirn oder dem Ausdruck von Unbehagen im gleichen Raum befinden, nicht mit ein paar Seiten Text ersetzt werden können. (Zumal sich zum Thema des Verhältnisses von Leben, Werk und Wirklichkeit ohnehin schon hunderte und tausende Texte finden lassen, die allermeisten davon von weit berufeneren Autor*innen als ich.)
In den letzten Wochen der Online-Lehre an der Universität habe ich erfahren müssen, dass eine Debatte über Literatur und/oder wichtigen Themen unserer Zeit – und Geisteswissenschaft besteht im Führen, Analysieren und Dokumentieren solcher Debatten – die physische Präsenz von Menschen braucht, selbst in Formaten, die, wie Vorlesungen, nicht interaktiv zu sein scheinen. Inzwischen weiß ich, dass sie es sind. Aber gut: Machen wir das Bestmögliche daraus. Dass alles, was Du jetzt lesen wirst, stark von meiner persönlichen Sicht geprägt ist, muss ich wohl nicht eigens voranstellen.
Damit die Distanz zwischen dem Dialog und dem Schreiben wenigstens um einen bemerkbaren Hauch minimiert wird, habe ich für mein Schreiben die Form eines Briefes gewählt. Ich habe mich ›einfach‹ hingesetzt und mit dem Schreiben begonnen, ohne Plan (ich verfertige meine Gedanken beim Schreiben), aber mit einer Absicht: mit Dir und Bettina Balàka (und dadurch vielleicht auch mit dem Publikum, das ich mir gerade im 10. Stock des Literaturhauses vorstelle) in einen Dialog zu treten.
Ich möchte einen Austausch zumindest simulieren, und der Begriff Simulation bezeichnet ja schon eine wichtige Leistung vieler literarischer Texte in ihrem Verhältnis zur so genannten Wirklichkeit. »Simulationen« benötigt man dann, wenn man »Systeme« verstehen will, »die für die theoretische oder formelmäßige Behandlung zu komplex sind« (so steht es zumindest im entsprechenden Wikipedia-Artikel). Ein bisschen pathetisch formuliert könnte man sagen, dass Literatur mit hochkomplexen Systemen, an denen Wissenschaft und Alltagsverstand scheitern, zurechtkommen.
Dass die Beziehungen zwischen der Simulation und dem Simulierten verwinkelt, manchmal dunkel, vielfältig, ambivalent und niemals einfach sind, muss ich Dir gegenüber, denke ich, nicht eigens erwähnen. Ich stelle es vor allem in der universitären Lehre fest: Wenn ich etwa mit Studierenden in einem Seminar über einen literarischen Text spreche, dann gehen diese am Ende des Seminars ja nicht einfach raus und sagen sich: »Oh, jetzt sehe ich die Welt so und so/anders/neu/verkehrt/besser/vollständiger/etc.«, sondern sie telefonieren mit einer Freundin oder einem Freund, rauchen ein Zigarette, denken über den Film vom Abend zuvor im Kino nach, blinzeln in die Sonne, freuen sich auf den Ausflug auf die Arzler Alm usw. Studierende – wie wir alle – lesen nicht nur, sondern bewegen sich in einem Netz von Bezügen, Kommunikationen und diskursiven wie nicht-diskursiven Handlungen, dessen Komplexität den Glauben, über den Bezug zwischen Texten und der Wirklichkeit etwas Haltbares aussagen zu können, wie Hybris erscheinen lässt. Zumal ja so vieles in diesem Netz nicht reflektiert, sondern unterschwellig und implizit wahrgenommen wird.
Wir dürfen den Einfluss von Literatur in diesem Bezugssystem nicht überschätzen, aber genauso wenig sollten wir ihn unterschätzen: Ich bin überzeugt davon, ohne einen stichhaltigen Beleg dafür anführen zu können, dass es um unsere Welt schlechter bestellt wäre, wenn wir nicht literarische Texte hätten (und andere Kunstformen etc.) – inklusive der handfesten sozialen (ökonomischen und politischen) Struktur, die uns diese Texte in welcher Form auch immer zur Verfügung stellt: Verlage, Buchhandlungen, Jurys, Subventionen, Preise, Schulen, Literaturhäuser, Festivals, Buchmessen, Kulturzentren, Universitäten etc. Dass alles, was wir als Literatur bezeichnen, aus Prozessen des Kodierens, Dekodierens und Rekodierens (um es ein bisschen technisch auszudrücken) besteht, ist, denke ich, einsichtig. (Mir fällt gerade Christoph Hinterhubers Kunstwerk de-decode de-recode re-decode re-recode ein, das Du sicher kennst und das sich auf der Brücke der alten Hungerburgbahn über den Inn befindet.) Wenn wir von Literatur sprechen, reden wir also nicht alleine von Büchern, die wir in der Hand halten, sondern von sehr komplexen Vorgängen des Verstehens und Erkennens, des Missverstehens und Verkennens, des Konstruierens und Dekonstruierens. Dass diese Vorgänge sehr viel Zeit brauchen, kann ein Nachteil sein, denn erstens ist Zeit in einem hyperkapitalistischen System eine Ware wie alles andere auch und daher einem harten Konkurrenzkampf ausgesetzt, und zweitens erfahren wir gerade eine Zeit, in der sehr schnell gehandelt werden muss. (Dass das Montagsfrühstück »Forum für strategische Langsamkeit« im Untertitel trägt, ist kein Zufall.)
Eine erste Einschränkung sei vorweg gleich formuliert: Wenn hier von Literatur die Rede ist, dann kann natürlich nicht alles gemeint sein, was unter diesem Begriff produziert, rezipiert, vermittelt, benannt, besprochen, beworben, verkauft, katalogisiert, analysiert, verdammt, be- und verurteilt oder gesammelt, also ganz einfach behandelt wird. Ein futuristisches Gedicht ›funktioniert‹ ja völlig anders als ein naturalistischer Roman, und zwischen dem, was uns irgendein Text und einer der großen russischen oder französischen Romane des 19. Jahrhunderts sagt, haben sehr viele Missverständnisse Platz. Reden kann man daher eigentlich nur über beispielhafte Einzelfälle – und das werde ich weiter unten auch tun –, womit wir genau genommen schon bei einer zweiten großen Leistung von vielen literarischen Texten angelangt sind: Sie ›schildern‹ in der Regel nicht die Wirklichkeit schlechthin, was auch immer das überhaupt sein könnte, sondern die Wirklichkeit von Emma Bovary, König Lear oder Ilja Iljitsch Oblomow. Das Wort »schildern« ist natürlich eine Krücke, aber nichts Anderes sind alle weiteren Begriffe, die eine Antwort auf die Frage geben wollen, was literarische Texte eigentlich tun und was sie mit uns anstellen: zeigen, darstellen, repräsentieren, vertreten, appellieren, erklären, konstruieren, sagen, rühren, irritieren, desorientieren, unterhalten, informieren, schockieren, aufrütteln, einlullen, vernebeln, herausfordern, in Frage stellen, kritisieren …
Vor einem Missverständnis sei gleich gewarnt: Diese Wirklichkeit, die uns in einem ganz konkreten literarischen Einzelfall begegnet, ist beileibe nicht individuell, sondern sie ist exemplarisch. Sie steht für etwas Allgemeineres. Daher sind literarische Texte letztlich politisch, aber in ihrer Konzentration auf das Konkrete und das Einzelne unideologisch. Du wirst mir entgegnen: »Und was ist mit all den umstrittenen Autor*innen, die mehr oder weniger schamlos und sehr oft dogmatisch Ideologien vertreten haben?« Ich habe von Texten gesprochen, aber Du hast natürlich recht: Man kann diese niemals ohne ihren Kontext betrachten. Und das heißt natürlich, dass man die Aussagen und das Handeln ihrer Urheber*innen nicht außer Acht lassen darf.
Aber der Kontext geht weit über Texte und ihre Autor*innen hinaus, denn man darf nicht vergessen, dass nicht nur die Texte und ihre Urheber*innen für das zur Verantwortung gezogen werden müssen, was man ganz generell die Bedeutung der Literatur nennen könnte. Auch die Leser*innen, die Medien, das Nobelpreiskomitee in Schweden, Jurys, Literaturhäuser, Studierende, Eltern von Kindern, die Politik, die Wirtschaft, Verlage, der Buchhandel etc. Es hilft nichts: Wenn wir die Frage nach dem Wirklichen (und damit auch dem Politischen) in der Literatur stellen, dann müssen wir sehr weit ausholen und eine tiefgreifende Diskussion nicht scheuen. In Abwandlung einer Passage aus Zadie Smiths Buch Freiheiten, das Du mir dankenswerterweise für die Vorbereitung auf das Montagsfrühstück empfohlen hast, müsste man sagen: Raus (aus dem Text) oder tiefer rein (in die Diskussion)! Dass wir, wenn wir tiefer ›reingehen‹, keine eindeutigen Antworten finden werden, und schon gar keine einfachen, ist klar – auch wenn wir so gerne Klarheit hätten. (»Hat er nun den Nobelpreis zurecht bekommen oder nicht?!?«) Das Nachdenken über den Kontext bedarf auch der Reflexion des eigenen Standpunkts in einem nahezu wörtlichen Sinne: Von wo aus spreche ich? Zu wem spreche ich? Mit wem spreche ich? Wer kann mich hören? Verstehen? Wer bezahlt die Kosten, die das Sprechen und Sprechen-Können verursacht? – ich könnte noch hunderte Fragen anführen.
»Tiefer rein in die Diskussion« bedeutet, Wissen zu generieren. Und dieses Wissen prägt den Eindruck, den man von einem Buch hat. ›Unschuldige‹ Lektüren gibt es nicht. Man kann es meines Erachtens auch noch deutlicher formulieren: Die Bedeutung eines Textes wird durch das Wissen, das man sich über Texte und ihre Autor*innen aneignet, geprägt. Es ist heute ohnehin nahezu unmöglich geworden, nichts über die Autor*innen von Büchern zu wissen, so sehr sind wir ihrer Medialisierung ausgesetzt. Bevor Du, liebe Anna, heute ein Buch kaufst, hast Du ja wahrscheinlich schon zehn Werbeeinschaltungen, zwei Berichte der Frankfurter Buchmesse und die Homepage der Autorin oder des Autors gesehen und gelesen, vor allem Du als Leiterin eines Literaturhauses. Für mich gilt ja Ähnliches. Wir beide zählen berufsbedingt zur Gruppe professioneller Leser*innen, wobei uns immer klar sein muss, dass wir Kanones bilden, ständig: Wenn Du eine Autorin oder einen Autor einlädst, dann hast Du zehn andere nicht eingeladen. Und wenn ich in einem Seminar zehn Bücher vorschlage, dann habe ich tausend andere eben nicht vorgeschlagen. Unsere Entscheidungen betreffen andere Menschen, etwa das Publikum im Literaturhaus oder Studierende in meinen Lehrveranstaltungen. Die Studierenden sind irgendwann Ex-Studierende und arbeiten in Verlagen, Buchhandlungen oder Kulturzentren, wo sie ihrerseits wieder bestimmte Entscheidungen treffen und treffen müssen, die vielleicht von dem bestimmt sind, was sie einst erfahren haben. Und wenn sie vielleicht irgendwann Kinder bekommen und ihnen Geschichten vorlesen, werden ihnen diese von Buchhändler*innen empfohlen usw.
Aber zurück zum Thema der Simulation: Die Wirklichkeit ist viel zu komplex (was wir im Moment ja eindrucksvoll erleben), um sie alleine mit naturwissenschaftlichen Mitteln oder mit denen des Alltagsverstandes durchdringen zu können. Wir müssen sie vielmehr als Modell nachbauen, eben simulieren. Und gute Schriftsteller*innen tun oft genau das, sie bauen hochkomplexe Modelle einer ganz bestimmten Wirklichkeit, manchmal sogar im Maßstab 1:1. Diese durchquerend und durchwandernd bekommen Leser*innen nicht nur einen Einblick in die Alltags- und Lebenswirklichkeiten der Protagonist*innen, sondern auch in die sozialen, ökonomischen, politischen und kulturellen Bedingungen und Strukturen, durch die diese Wirklichkeiten determiniert werden.
Leser*innen bekommen dabei auch eine Sprache für ihre eigenen Erfahrungen und Erlebnisse: Wer einen Roman liest, der bewegt sich in einer Welt von Analogien, Beispielen und Metaphern, die dem eigenen Leben eine Art Spiegel oder Reflexionsfolie bieten. Darum erleben wir ödipale Konflikte, fühlen uns in einer kafkaesken Situation (zurzeit wahrscheinlich ganz besonders), kommandieren zu Hause unsere Kinder herum wie King Lear oder fühlen uns eingesperrt in unausgelebten (und im Augenblick auch nicht auslebbaren) Tagträumen wie Madame Bovary.
Die Modelle der Schriftsteller*innen leisten sogar noch mehr: Es sind oft auch Modelle des Denkens und Fühlens, also eine Art Simulation kognitiver Prozesse, die auf der Oberfläche immer als Zeichen sichtbar werden, die wir entschlüsseln können und entschlüsseln müssen. Die Bedeutung dieser Zeichenwelten liegt, wie schon gesagt, nicht in der Hand ihrer Urheber*innen, aber auch nicht in jener der Leser*innen. Niemand hat die Bedeutung der Sprache gepachtet, aber jede Aussage, jedes Gedicht und jede Zeile einer Erzählung hält die Sprache nicht nur am Leben, sondern verändert sie unmerklich. Wir verfertigen unsere Wirklichkeit beim Sprechen und beim Handeln. Du wirst einwenden, dass Modelle immer Reduktionen darstellen. Zadie Smith würde darauf vielleicht antworten (auch wenn das nicht ganz so einfach ist, wie es klingt): »Literatur reduziert Menschen, schlechte Literatur allerdings mehr als gute, und wir können uns immer entscheiden, gute Literatur zu lesen« (Freiheiten, S. 82).
Wer nun aber meint, dass Simulationen Bestehendes (mehr oder weniger reduzierend) einfach nur modellieren, vergisst die dritte große Leistung vieler literarischer Texte: Es sind Erfindungen, fiktionale Produkte. Im Englischen würde man vielleicht sagen: Sie sind imagined, etwas Imaginiertes, Vorgestelltes, vor uns Hingestelltes, selbst dann, wenn man in einem Roman faktische Ereignisse oder historisch verbürgte Personen findet. Dir muss ich das nicht genauer darlegen, denn Du bist ja selbst auch Schriftstellerin und, vor allem, Leserin. Und als solche weißt Du natürlich ganz genau, dass die Modelle, die Du verfertigst, nicht die Wirklichkeit nachbilden, sondern dass wir Wirklichkeit Modellen folgend konstruieren. Dies Konstruktion beginnt in der frühesten Kindheit (wenn uns Geschichten vorgelesen werden) und hört letztlich nie auf. Ein Liebesroman bildet ja nicht das ab, was ich als Leser fühle, sondern entwickelt ein Modell, das meinem Fühlen eine Sprache und vielleicht auch Orientierung bietet. Was mir noch viel wichtiger erscheint: Ein literarischer Text kann mich desorientieren. Und nur, wer desorientiert und irritiert wird, kann aus Routinen ausbrechen und die Kontingenz unseres sozialen Handels – das uns viel zu oft als selbstverständlich oder gar als natürlich erscheint – erkennen. So habe ich Bertolt Brechts episches Theater und das Wirken ›seines‹ berühmten Verfremdungs-Effekts immer verstanden. Im aristotelischen, ›alten‹ Theater (und auch in vielen Romanen, würde ich hinzufügen) wird uns, so Brecht im Kleinen Organon für das Theater, eine Welt vorgeführt, die »nicht als beeinflußbar durch die Gesellschaft (im Zuschauerraum)« gezeigt wird, die also »den gesellschaftlich beeinflußbaren Vorgängen den Stempel des Vertrauten« aufdrückt. Wenn etwas vertraut erscheint, dann halten wir es für evident und einleuchtend: Das »lange nicht Geänderte nämlich scheint unänderbar«, meint Brecht. Der V‑Effekt nun soll das Publikum dazu bringen, das Gesehene und Gelesene als geschichtlich entstanden und als veränderbar wahrzunehmen. Für mich ganz persönlich würde ich sagen, dass gute Literatur immer etwas Verfremdendes hat oder vielleicht sogar haben muss.
Literarische Texte geben unserem Denken eine Form, kontextualisieren es dadurch und können dabei zeigen, dass alles, was wir denken, und all unsere Formen zu leben etwas geschichtlich Entstandenes sind. Das mächtigste Instrument, das Schriftsteller*innen zur Verfügung steht, ist ihre Kompetenz und ihr Wille (und alles, was man dazu braucht: Talent, Übung, Zeit, Geld, Kraft etc.), Sprache zu formen. Und je nachdem, wie sie das tun, wird auch unsere Wirklichkeit aussehen. Der ›Inhalt‹ eines Textes – auch wenn die Unterscheidung zwischen Inhalt und Form immer nur eine analytische und vorläufige sein kann – ist selten entscheidend. (Anstelle des Begriffes Inhalt ist vielleicht jener des Materials geeigneter, aber ich denke, Du weißt, was ich meine.) Viel zentraler sind all die Mittel, die bei der Formung von Gedanken zum Einsatz kommen: von Allegorien, Alliterationen, Anaphern und Assonanzen über Metaphern, Metonymien, Montagen und Motiven bis hin zu Zeilensprüngen, Zeugmata und Zwischenreimen. Wie bewusst Autor*innen mit diesem Werkzeugkasten umgehen, weiß ich nicht. Es erscheint mir nicht entscheidend: Ein guter Pianist kann Dir ja auch nicht sagen, was er genau mit seinen Händen macht. Interessant ist jedoch – den Gedanken habe ich auch von Zadie Smith geklaut (aber er trifft ganz meine Erfahrung als manchmal naiver, manchmal professioneller Leser) –, dass sich Leser*innen meist auf Inhalte konzentrieren, während Schriftsteller*innen und professionelle Interpret*innen eine gewisse Formbesessenheit an den Tag legen. Für ›Alltags-Leser*innen‹ ist Das Erdbeben von Chili von Heinrich von Kleist eine Geschichte über eine Naturkatastrophe und ihre seltsamen und schrecklichen Folgen. Professionelle Interpret*innen können tagelang über die Rolle des Konjunktivs in dieser Novelle nachdenken.
Damit Literatur Wirkung entfalten kann, braucht es deren Autonomie, in meinen Augen eine der größten Errungenschaften des 18. Jahrhunderts, wobei Dir und mir klar ist, dass sie immer ein zweischneidiges Schwert war und ist: Ohne Autonomie gibt es zwar keine Freiheit der Literatur, aber gleichzeitig kann diese auch als Argument dienen, die Kraft literarischer Texte im Belletristik-Programm von Verlagen, in Literaturhäusern, Universitätsseminaren oder Theaterspielstätten zu neutralisieren. Noch einmal anders gefasst: Ohne klare Grenze zwischen Politik, Wirtschaft, Religion und Kultur auf der einen Seite und Kunst und Literatur auf der anderen drohen letztere immer vereinnahmt zu werden. Gleichzeitig gilt diese Grenze vielen aber auch als Argument dafür, Kritik auslagern und im Reservat der Kunst und der Literatur einsperren zu können. »Tobt euch dort aus, ihr Chaoten! Dort dürft ihr es, und wir bezahlen euch sogar noch dafür.« Auf jeden Fall hat erst die Autonomisierung der Literatur dazu geführt, dass literarische Texte für alles Mögliche verwendet werden können und werden, sei es für Identifikation, Idealisierung, Analyse, Kritik, Unterhaltung, Bestätigung, Belehrung, Affirmation, Vertretung und vieles andere mehr. Mit anderen Worten: Durch die Autonomie kommt Polyvalenz ins Spiel, und nur die erlaubt es uns, unterschiedliche Handlungsformen durchzudenken und durchzudiskutieren.
Literarische Texte erlauben es uns, anderen zuzuschauen und sie dabei zu beobachten, wie sie unter ganz bestimmten Bedingungen leben und handeln – und dies in einem gefahrlosen Raum, im Spiel. Spiele können etwas sehr Ernsthaftes sein, wie Du weißt, aber sie fallen zum Glück nicht (oder nur sehr selten) mit dem Ernstfall zusammen. Wenn ich im Theater oder im Kino sitze (und für das Lesen gilt im Grunde das Gleiche), dann kann ich zuschauen, und empfinde sogar noch Genuss dabei, wenn sich auf der Bühne oder der Filmleinwand Menschen gegenseitig quälen und umbringen. Und ich muss ihnen nicht zu Hilfe eilen und auch nicht die Polizei rufen – es agieren Schauspieler*innen, und die tun nur so als ob. Dass das extrem intensiv sein kann, hast Du wohl ebenso erfahren wie ich.
Du hast mich in einer Deiner letzten Mails gefragt, »inwieweit und in welcher Form Autor*innen in ihren Texten persönliche und gesellschaftliche Realitäten zu literarischer Fiktion ›transformieren‹«. Eine mögliche Antwort kann uns Das Erdbeben in Chili von Heinrich von Kleist geben, ein Text, den ich mit Studierenden sei Jahren immer wieder lese und der bis heute nichts an Aktualität verloren hat. In der Corona-Krise löst diese Novelle zwar kein gegenwärtiges Problem, weist aber mit großer Eindrücklichkeit in die Zukunft (wenn auch in eine, die lieber nicht eintreten sollte). Man kann es auch allgemeiner fassen: Literatur macht Vergangenheit verfügbar, damit wir Zukunft modellieren und simulieren können.
Bekanntlich geht es um die Beziehung zwischen Josephe und Jeronimo, die nicht standesgemäß ist. Josephe wird schwanger und daraufhin zum Tode verurteilt, Jeronimo landet im Gefängnis. Als er dort gerade aus Verzweiflung Selbstmord begehen will, während Josephe zum Hinrichtungsplatz geführt wird, zerstört ein gewaltiges Erdbeben Gebäude und Institutionen, und Josephe und Jeronimo kommen durch Zufall frei. Außerhalb der Stadt treffen sie sich wieder und leben dort mit vielen anderen Überlebenden in einer Art Paradies. Im Glauben, in der Stadt nach diesem verheerenden Unglück und unter neuen Bedingungen Gnade und Begnadigung finden zu können, kehren sie zurück, werden aber in einem Gottesdienst erkannt und vor der Kirche von einem Lynchmob erschlagen, Jeronimo von seinem eigenen Vater, Josephe vom Schuster Meister Pedrillo, der sie seit ihren Kindheitstagen kannte.
Kleist transformiert, wenn man so will, die Debatten über das Theodizee-Problem, über das verheerende Erdbeben von Lissabon von 1755, über die Französische Revolution und über die Napoelonischen Kriege in literarische Fiktion, in dem er erfundene Personen, die im 17. Jahrhundert in Santiago de Chile leben, jene Konflikte ausagieren lässt, die aus der Zerstörung gesellschaftlicher Ordnungen resultieren. Diese Ordnungen haben immer zwei Seiten: Sie sind Zwang und Ermöglichung gleichermaßen. Aber Kleist transformiert nicht nur seine eigene Welt in eine literarische Fiktion, sondern Möglichkeiten unserer Wirklichkeit, also unserer eigenen Zukunft, wenn Du so willst. Denk an die Beklemmungen und rigiden Einschränkungen, die wir zurzeit aufgrund des Coronavirus (auch eine Form Naturkatastrophe) erleiden: Auch diese sind Zwang und Ermöglichung: Sie schränken unsere Freiheit massiv ein und retten dabei Menschenleben. Und weil wir nicht sicher wissen können, welche Konsequenzen das haben wird, müssen wir im gegenwärtigen Tun ständig unsere eigene Zukunft modellieren. Die Lektüre und Diskussion von literarischen Texten, die, wie schon gesagt, Modelle darstellen, helfen uns bei dieser ›prognostischen Arbeit‹. Virolog*innen, Epidemiolog*innen und Ökonom*innen können uns sagen, was wahrscheinlich mit unserer Gesundheit und mit der Wirtschaft passieren wird, wenn wir dieses und jenes tun oder unterlassen – und Politik wie Gesellschaft müssen daraus Handlungsanleitungen entwickeln. Aber sie können uns ebenso wenig wie Politiker*innen sagen, welche wahrscheinlichen (oder auch unwahrscheinlichen) Konsequenzen dies auf den zukünftigen Zustand unserer Gesellschaften haben wird. Wir stehen heute in dieser Corona-Krise ganz am Anfang der Kleistschen Novelle und wissen noch nicht, wie wir einen Weg finden werden, der dauerhafte staatliche Repressionen auf der einen Seite und sozialdarwinistische Zustände auf anderen vermeidet – beides findet sich im Erdbeben – und eine Gesellschaft ermöglicht, in der die Freiheit des Einzelnen garantiert werden kann. Große Worte? Mag sein. Aber es steht auch einiges auf dem Spiel. Und weil viel auf dem Spiel steht, benötigen wir Texte, die uns nicht nur an den eigenen Dogmen und Ideologien zweifeln lassen – und damit ist ganz dezidiert nicht der Zweifel an Fakten gemeint –, sondern auch das in Frage stellen, was wir gemeinhin als natürlich oder zumindest als mehr oder weniger selbstverständlich wahrnehmen, nämlich Dinge wie Geschlecht, Eigentum und Besitz, Klassenverhältnisse, Ethnizität, Identität, Familienverhältnisse, Wirtschaftsformen, Biologie usw.
Dass Naturkatastrophen und ihre Konsequenzen nicht alle Menschen gleichermaßen betreffen, macht Kleist deutlich. Wunderbar deutlich wird es aber auch im Roman Die Tauben von Brünn von Bettina Balàka (die ich sehr gerne persönlich kennen gelernt hätte). Das Buch ist hockaktuell, auch wenn seine Handlung im 19. Jahrhundert angesiedelt ist. Es macht nämlich ein paar wichtige Dinge mit großer Eindrücklichkeit bewusst, wobei dieses Bewusstsein in der Corona-Krise vielleicht nicht direkt hilft, uns aber sehr wohl dabei helfen kann, in Zukunft für eine gerechtere Ordnung einzutreten. Zwei dieser Dinge möchte ich nennen: (1) Ein Virus (im Buch ist es die Tuberkulose) trifft die Besitzlosen weit härter und direkter und sehr viel häufiger als die Besitzenden (wobei mit Besitz vieles gemeint ist: Geld, Macht, Bildung, Platz, Privatheit, medizinische Versorgung, Ressourcen aller Art etc.); (2) Aberglaube (heute würde man vielleicht noch anhängen: Halbwissen, fake news, Verschwörungstheorien etc.) ist nicht nur hochgefährlich, sondern kann auch ein Instrument der Besitzenden zur Knebelung und Vernebelung der Besitzlosen sein, das man zudem auch noch zu Geld machen kann.
Ich mache mir allerdings wenig Hoffnung, dass Literatur den Lauf der Welt entscheidend zum Positiven hin beeinflussen kann. Würde ich diese Hoffnung aber ganz und gar aufgeben, dann müsste ich meinen Beruf wohl an den Nagel hängen oder zum Zyniker werden. Darum schließe ich mit der Aussage eines Freundes (eines emeritierten Universitätsprofessors, der sich Zeit seines Lebens mit so ziemlich allen Schrecknissen, die Gesellschaften hervorgebracht haben und hervorbringen, auseinandergesetzt hat und es immer noch tut), der sinngemäß einmal sagte: Es gibt wenig Grund, optimistisch zu sein, was unsere Zukunft betrifft; aber es ist gerade deshalb eine moralische Verpflichtung, optimistisch zu sein. Ich glaube, ich schließe jetzt besser, bevor ich noch pathetisch werde, und gehe mal Candide und Der Mythos von Sisyphos in meinem Bücherregal suchen.
Auf Deine Antwort und die Fortführung unseres Gesprächs (in welcher Form auch immer) freut sich
Dein Martin
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