Peter Hodina 08.–13. 02. 2021

Du Duden auf Google!“

Bus

Liegt es am Alter, denn ich neige dem Sechziger zu, zwar noch zwei Jahre, aber meine Fün­fziger haben Schlag­seite und wer­den sinken, dass ich an mir und mehr noch andere an mir gewisse Aus­fallser­schei­n­un­gen bemerken, oder liegt es an diesen sich über Wochen und mit­tler­weile Monate erstreck­enden Lockdowns?

Sich selb­st, lebt man über­wiegend allein, verzei­ht man manch­es, richtet sich mit bes­timmten Defek­ten ein, wenn man zu dem einen Typ gehört. Das Gedächt­nis war ein­mal bess­er, aber wir haben die Krück­en Google und Wikipedia. Oder weil wir diese Krück­en benutzen und seit Jahren es zur Gewohn­heit gewor­den ist, sie zu benutzen, haben wir als Archivare unser­er selb­st nachge­lassen. Denn was ist das für ein Archivar, der immer nur angeben kann, wo irgend­wie etwas ste­ht, statt exakt? Der zwar ein erstaunlich­er Find­er immer noch ist, dabei aber ein Such­er, Tap­per? Der wie ein Zauberkün­stler mit einem Griff aus dem Haufen ein Gesucht­es herbeiapportiert?

Solche Punk­te machen wir noch. Wie geal­terte Ten­nis­stars, die ihre Par­tien meist nicht mehr gewin­nen, aber in manchen Aktio­nen noch ihre frühere Klasse ver­rat­en. Es wird alles zur Kompensatorik.

Das ist der eine Typ wie gesagt; der andere lässt sich und anderen, vor allem dem Zusam­men­lebenspart­ner solche Dinge nicht durchge­hen, erken­nt sie, macht ihn aufmerk­sam auf Fehlleis­tun­gen, unge­naue Aus­druck­sweisen, die sich häufen, und je mehr der Eine in den kri­tis­chen Blick des Anderen gerät, desto mehr häufen sich für gewöhn­lich seine Fehler, die er wie aus ein­er Obst­steige die Äpfel vor die Füße des Anderen kugeln lässt, während seine Arme vom Die-Trep­pen-Hin­auf­tra­gen schwächeln.

Es heißt die Treppe hin­aufge­hen, nicht die Trep­pen.“ So der andere. Erster­er ist sich nicht sich­er, möchte wider­sprechen, sein Leb­tag lang hat er „die Trep­pen hin­auf­steigen“ gesagt, wie in Öster­re­ich umgangssprach­lich üblich, und jet­zt soll er seine Aus­druck­sweise ändern. Er mur­rt. Greift zum Handy, ahnt den Per­miss, dass bei­des erlaubt ist, der andere unter­sagt es ihm, ver­lässt verärg­ert den Raum, wirft ein Holzstück in den Ofen: „Ich habe genug von diesen geschwätzi­gen Stamm­lern und diesen Rechthabern.“

Ich bin immer nur ein defen­siv­er Rechthaber“, vertei­di­ge ich mich direkt wein­er­lich, „du aber der offen­sive. So gut wie nie kor­rigiere ich dich, du hinge­gen mich, täglich mehr‑, nein viel­mals! Und ein­mal suche ich zur Abwech­slung einen Punkt auch für mich her­auszuschla­gen und greife, um es zu bele­gen, nach dem Duden auf Google.“

Du Duden auf Google!“, spot­tet der andere.

Nasenbedeckung durch Donald Duck

Weg

Es sind immer ähn­liche Spazier­wege, die ich ein­schlage, von oben und im Gesamtver­lauf gese­hen meist in Form ein­er Brille, wie mir die Funk­tion Zeitachse auf dem Handy zeigt, 13 bis 14 Kilo­me­ter, wobei ich den Kom­mu­nal­fried­hof quere. Ein­er der Eck­punk­te ist eine umfunk­tion­ierte Tele­fonzelle, aus der Büch­er ent­nom­men wer­den kön­nen, und so habe ich kür­zlich die ein­mal bei ein­er Buchge­mein­schaft erschienene Rei­he Bib­lio­thek der Weisheit um einige zusät­zliche Bände ergänzen können.

In der Gneis­er Spar-Fil­iale lasse ich mir zwei Sem­meln mit ein­er Wurst mein­er Wahl bele­gen, kaufe eine Dose Red Bull und eine Flasche gift­blaue Pow­er­ade, aus welch­er ich im Gehen trinke, während ich, bin­nen Minuten spür­bar gestärkt, die drei­hun­dert Meter zur Bücherzelle hinüber­marschiere. Nicht nur pack­te ich dort das Ägyp­tis­che Toten­buch ein, son­dern auch eine Samm­lung altä­gyp­tis­ch­er Weisheitssprüche; in meinem Ruck­sack befand sich zusät­zlich der neueste Band von Walt Disney’s Lusti­gen Taschen­büch­ern, Im Land der Pharao­nen, den ich wegen des Gold­press­drucks auf dem Umschlag, der einen Don­ald Duck in Tutan­chamun-Maske zeigte, in der Fil­iale vorher gekauft hatte.

Wieder zuhause lag ich auf meinem Bett und las abwech­sel­nd in den ägyp­tis­chen Weisheits­büch­ern und in besagtem Don­ald Duck. Das let­zte Mal, dass ich Comics dieser Art gele­sen hat­te, dürfte 1986 gewe­sen sein. Mich beruhigt der Geruch dieser Büch­er, der seit mein­er Kind­heit der­selbe ist, das raue Papi­er, ich beschnup­perte das Pro­dukt, hielt die Seit­en schräg unters Nachtkästchen­licht, befühlte sie. Irgend­wie wollte mein Ver­stand aber zunächst diesen Bildgeschicht­en nicht fol­gen, er war über sie und auch ihr For­mat hin­aus­gewach­sen, so betra­chtete ich das für 10 € gekaufte Druck­w­erk als solch­es, wie ich es als Kind nie betra­chtet hat­te. Als Kind wollte ich immer sogle­ich hinein in die Geschicht­en oder zumin­d­est in die Bilder und hat­te sich­er dutzend­mal ein und diesel­ben Büch­er und Hefte gele­sen, mich dabei beruhigt und dazu Schnit­ten oder Erd­nuss­flips in mich hineingestopft.

Manche meinen, das Druck­w­erk würde stinken, wie auch, dass die Kro­nen Zeitung stänke, aber mir gibt dieser Geruch die sinnliche Gewis­sheit, dass meine alte Welt noch ste­ht, jed­erzeit wiederabruf­bar ist, dass Schulen und Uni­ver­sitäten und aller­lei Lebenslehrer ihre oft zudringliche Mühe an mir verge­blich ver­schwen­de­ten, selb­st mir verabre­ichte Trau­ma­ta in diese meine Tiefe der Plattheit nicht aus­re­ichend grif­f­en, nicht endgültig schnit­ten, um mir ein für alle­mal solch Kinder­belus­ti­gung aus den Hän­den zu schmettern.

Und so set­ze ich mich nach allem Abgeräumtwer­den wieder auf, es ist immer so gewe­sen, man hat mich abgeräumt, ich habe mich wieder aufge­baut, aus den gle­ichen Ele­menten, was sich­er nicht großar­tig und auch nicht beson­ders intel­li­gent ist. So habe ich mir nie die Weisheits­büch­er aus den Hän­den und aus dem Hirn schla­gen lassen, eben­so nicht den Don­ald Duck, aber über den Tod trägt Let­zter­er nicht. Ich dachte an den großen Leib­niz, als ich mir den Don­ald Duck zur Probe aufgeschla­gen über die Nase legte, um den Geruch dieser spez­i­fis­chen Druck­er­schwärze einzu­at­men, wie ich es als Kind schon getan hat­te, dass Leib­niz, als er starb, sich seine Schlafmütze über die Augen gezo­gen hatte.

Immer­hin wich genau an dem Tag, als ich mir wieder Dis­ney zurück­er­schloss, der andere Don­ald endlich von seinem Amt als POTUS.

Verwirrungen um ein Headset”

Hodina Porträt

Der Fuß­marsch mit dem jun­gen Koch, der mich Mitte April let­zten Jahres um den Wallersee führte, wohl 20 Kilo­me­ter, von Hen­ndorf weg, als die Coro­na-Maß­nah­men des ersten Lock­downs noch nicht gelock­ert waren, ist im Rück­blick ein Höhep­unkt des an äußeren Ereignis­sen armen 2020er Jahres gewe­sen. Wir hat­ten zunächst die hell­blauen Masken auf, als wir von Hen­ndorf aus starteten. In der Kon­di­tor­ei dort hat­te mein Begleit­er mehrere Stücke Tiramisu sowie ein Six­pack Bier net­ter­weise für uns als Wegzehrung gekauft. Wir marschierten am Ufer ent­lang, wo ver­waiste Woch­enend­hüt­ten standen, dieser „Strand“ lag wie aus­gestor­ben da, die Luft war kalt, der Früh­ling hat­te sich noch nicht durch­set­zen kön­nen. Mein Begleit­er war viel zu leicht und luftig ange­zo­gen: in kurz­er dün­ner Hose, mit T‑Shirt, er schlot­terte, ich hat­te zufäl­lig zwei Pullover und zwei Mützen mit dabei, ohne aber eigens an ihn gedacht zu haben.

Wie wir am See ent­lang­gin­gen, er inzwis­chen mit diesen Sachen aus meinem Ruck­sack zusät­zlich bek­lei­det, hat­te ich das Gefühl, hier zum ersten Mal zu gehen, was aber nicht stim­men kon­nte, und erst nach­dem wir den See umrun­det hat­ten und ich auf der Heim­fahrt nach Salzburg mich befand, wollte ich  mich wieder an vor­ma­lige andere Touren erin­nern, sei es noch mit den Eltern, mit der Schulk­lasse oder alleine, die mich um den See herumge­führt haben mussten, was aber inzwis­chen so weit zurück­lag, als hätte es in einem früheren Leben stattge­fun­den. Undeut­lich zeigten sich die Knospen von nachträglich hineinkon­stru­ierten Déjà-vus, um nur allzugerne aufzus­prin­gen,  wobei ich mich doch stets als Erin­nerungskün­stler emp­fun­den hat­te, hier jedoch eine aber­ma­lige Probe des Entschwindens der Jahre geliefert bekam, eben­so wie ich mich auf den weni­gen alten Fotos, so deut­lich sie mir vor Augen zu ste­hen schienen, dass ich sie jahre­lang nicht mehr betra­cht­en zu müssen glaubte, kaum mehr mit Überzeu­gung iden­ti­fizieren kann, was aber nichts macht. Dass diese Hüllen aus ver­schiede­nen Vor­leben weg­fall­en, sich auflösen, ist nur naturgemäß, ist keine Katas­tro­phe, wobei meine dies­bezügliche Grun­de­in­stel­lung, meinem Leben gle­ich, deut­lich in zwei Großab­schnitte zer­fällt: die Zeit, in der ich alles tat, um mich nicht zu verän­dern (eine sehr weit gefasste Jugendzeit), und die andere Zeit, in der ich dem Auseinan­der­driften freie Fahrt lasse und förm­lich befriedigt darüber bin, wenn ich mich auch äußer­lich verän­dere, ja am Ende mich auflösen werde – und sei es in die Atome, wie Mark Aurel in den Selb­st­be­tra­ch­tun­gen geschrieben hatte.

Die Zeit, sich Lehrern auszuset­zen, ist vor­bei, wenn man nicht nur Hitler bald um zwei Jahre über­lebt und auch Thomas Bern­hard wenig­stens nach Wochen über­holt hat, denn Bern­hard war mit Achtund­fün­fzig gestor­ben, drei Tage nach seinem Geburt­stag. Wenn noch Lehrern sich aus­set­zen, dann ganz jun­gen, sage ich mir, denn mit den älteren hat­te ich kein Glück. Und es ist der größte Ver­trauens­be­weis von mir notorischem Nichtkoch, wenn ich mir von einem Jungkoch doch noch Kochen beib­rin­gen lassen würde, zumal ich erfahren musste, dass Kochen mit Macht ein­herge­hen kann.

Um dem Jun­gen mich anzuäh­neln, wollte ich genau solche Kopfhör­er haben wie er, hat­te sie vor Wei­h­nacht­en aus der Slowakei bestellt, sie trafen nie ein, was ich auf Coro­na zurück­zuführen geneigt war. Nicht vergessen war ich wor­den, denn ein nicht mehr erwarteter Anruf ver­hieß mir die Zustel­lung des Head­sets an meine Adresse. Es freute mich nicht wenig, die Rech­nung war lang schon bezahlt, der Anbi­eter aber gilt, wie Stim­men im Inter­net zeigen, als unzuverlässig.

Die öster­re­ichis­che Post würde mir das Stück, das mich dem Jungkoch magisch verähn­lichen hätte mögen, die Woche noch zustellen, hieß es, und prompt bekam ich wenig später eine Mail von der Post, die Sendungsver­fol­gung betr­e­f­fend. Nicht erin­nere ich mich, je der Post meine Mail-Adresse durchgegeben zu haben, aber das kann täuschen. Ich freute mich nicht wenig, endlich würde es klap­pen, aber, obwohl ich zu Hause war, wurde bei mir nicht geläutet, ich rauchte am Balkon, danach blick­te ich aber­mals auf die Sendungsver­fol­gung und musste sehen, dass eine halbe Stunde vorher die Zustel­lung direkt an mein­er Haustür gescheit­ert sein musste, weil ich ver­ab­säumt hat­te, die Top-Num­mer dazuzuschreiben, zumal mich die Post­sachen son­st trotz­dem erre­ichen. In dem Fall lei­der nicht.

Ich rief den Kun­den­di­enst an, bekam die Auskun­ft, das Paket würde in die Slowakei zurück­geschickt, das sei nicht mehr umzudi­rigieren, was ich ein­fach nicht glauben wollte; somit pro­bierte ich herum, die App der Post herun­terzu­laden, was einige Zeit beanspruchte und dazu wur­den meine Dat­en, wurde mein Reisep­a­ss gebraucht, um meine Iden­tität zu ver­i­fizieren. 2500 Sekun­den, also mehr als eine halbe Stunde, dauerte die Wartezeit, bis das entsprechende Unternehmen sich per Videoschal­tung meldete. Auf­tragge­ber war die Post, die ja meine Dat­en anscheinend hat­te. Trotz­dem musste ich mich ein­er län­geren Proze­dur jet­zt unterziehen, den Pass ans Fen­ster hal­ten, mehrmals hin- und her‑, auf- und abwen­den, meine Fin­ger einzeln über den Pass, dessen Laminierung das Licht von draußen zurück­re­flek­tierte, streifen lassen, ich sah den jün­geren bär­ti­gen Her­rn mir diese Anweisun­gen Schritt für Schritt geben, wobei ich mich sich­er unbe­holfen angestellt haben musste.

Mein dage­gen Appel­lieren, dass die Post doch ohne­hin meine Dat­en hätte, half nicht, sie waren vor der Tür ges­tanden mit dem Paket und wieder abge­fahren, ich wollte es umlenken, warum nicht ein­fach es in ein­er Abhol­sta­tion deponieren oder in ein­er Post­fil­iale zur per­sön­lichen Abhol­ung bere­i­thal­ten? Ich wieder­holte mich, sah mich selb­st auf dem Handy, wie ich dem Her­rn im kleineren Fen­ster, der nur seine Arbeit ver­richtete, dies erk­lärte, wobei ich mich selb­st ver­ab­scheute, meine sich kringel­nden ergraut­en paar Haare, mein geal­tertes Gesicht, mein Aus­ge­set­zt­sein, den ganzen mor­gendlichen Unsinn, diesen Knäuel an Hyperbürokratie.

Wegen des Daten­schutzes“, sagte der an sich ja geduldige Men­sch am anderen Ende. „Aber wessen Dat­en sollen hier geschützt wer­den?“, wandte ich ein, „die Post hat unge­fragt ja meine Dat­en, wie der zugestellte Sendungsver­lauf mir bewies.“

Nichts half es, es wurde mir nach Ende der tölpel­haft umständlichen, steinzeitlich anmu­ten­den Iden­ti­fika­tion­sproze­dur eine soge­nan­nte TAN-Num­mer durchgegeben, die solle ich eingeben, danach wür­den mir „weit­ere Fra­gen zu meinem Leben gestellt“ wer­den, was noch alles? Doch die TAN-Num­mer war falsch oder inzwis­chen in jenen lan­gen Minuten der Umständlichkeit wieder abge­laufen, der Kon­takt riss ab, alles umson­st, ich hätte mich aber­mals eine halbe Stunde in die Warteschleife zu begeben gehabt.

Und was war das Ergeb­nis all dieses ange­blichen Daten­schutzes? Dass jemand ander­er jet­zt meinen ganzen Pass mit allem Drum und Dran sowie meine Fin­ger und meine Vis­age hat ablicht­en kön­nen, und ich hat­te mich vorher noch per Anklick­en als so fre­undlich erk­lärt, dass der mit mir unter­nommene Film zu Schu­lungszweck­en ver­wen­det wer­den dürfe. Daten­schutz? Sie haben von mir alles – und ich nichts.

Der Überforderungskonservative

Felsen

Es ist ein Umkreisen von The­men, mit­ten in der Nacht im Bett oder vor­mit­tags im Eis­re­gen, es sind die alten The­men, die man durchkaut, Vergänglichkeit, Zeitverge­hen, Akzel­er­a­tion der Jahre, Lösun­gen, bish­er niegekan­nte, will man sich ein­bilden gefun­den zu haben, jahrzehn­te­lange Ver­ran­ntheit­en been­det, aber es geschieht verdächtig zu oft, wie im Tur­nus, dass all diese Knoten aufknüpf­bar scheinen, ver­riegelt gewe­sene Tore entriegelt. Ein Sys­tem der Psy­che, eine Welt­land­schaft­skarte wird über­flo­gen, man glaubt, nicht nur der Lösung des eige­nen Rät­sels, son­dern der Lösung des Rät­sels an sich nahezusein.

Dies seien Gehirn­vorgänge, bio­chemis­che, phys­i­ol­o­gis­che, hor­monelle Prozesse, sagen manche, vor­dem nan­nte man es Gedanken­flucht, und würde die zum Dauerzu­s­tand, sei drin­gend Ther­a­pie anzu­rat­en, jedoch die Poet­innen und Poet­en sprechen von Rever­ié, Träumerei, und es gibt auch Musikkom­po­si­tio­nen, die so heißen, wie über­haupt das, was in Musik sich bewegt, den roman­tis­cheren Naturen nur, wenn über­haupt, sehr behelf­sweise sich in die gewöhn­liche Sprache über­set­zen lässt. Ist es ein Lied, das ver­tont wird, ist insofern in dem Lied als Sin­nge­bilde Halt, aber das freie Schweifen, das nicht ein­mal ein Abschweifen von etwas ist, son­dern ein Schweifen an sich, zieht sich den Vor­wurf der Halt­losigkeit zu. Es hieße, aus dem Leeren Leeres mit einem Sieb zu schöpfen.

Wir mein­ten, der Früh­ling würde begin­nen, doch der Win­ter ist zurück, eisig, und wir hat­ten noch nicht bedacht, dass es auch schlicht und ergreifend Wet­ter­füh­ligkeit sein kön­nte, nicht Seel­is­ches, son­dern allen­falls See­len­res­o­nanz auf äußere, in dem Fall mete­o­rol­o­gis­che Vorgänge. Was am Mor­gen beim Aufwachen noch beweglich war, ist abends, da es noch zur Nieder­schrift des Textes kom­men muss, erstar­rt; und ich sah gestern im Fernse­hen einen Wasser­fal­lk­let­ter­er, der ohne Sicherung sich an den großen Zapfen wagte, wobei jed­er Fehltritt ab ein­er gewis­sen Höhe den Tod zur Folge hätte.

Ich sage pro­vi­sorisch „Rilke“, den ich noch immer viel zu wenig kenne, als wäre Rilke der Platzin­nehal­ter, Platzbe­haupter eines solchen Denkens, eines reflex­iv­en Füh­lens, ein­er Reflex­ion, die zugle­ich Fühlen, und eines Füh­lens, das zugle­ich Reflex­ion wäre. In einem Brief an Lou Andreas-Salomé schrieb er im Juni 1914 aus Paris: „Ich bin auch so heil­los nach außen gekehrt, darum auch zer­streut von allem, nichts ablehnend, meine Sinne gehen, ohne mich zu fra­gen, zu allem Stören­den über, ist da ein Geräusch, so geb ich mich auf und bin dieses Geräusch, und da alles ein­mal auf Reiz Eingestellte auch gereizt sein will, so will ich im Grunde gestört sein und bins ohne Ende.“

Willy Hell­pach, dieser viel­seit­ige, vergessene Mann aus Schle­sien, 1877–1955, ver­fasste schon 1911 ein Buch über Die geopsy­chis­chen Erschei­n­un­gen mit dem Unter­ti­tel Die Men­schenseele unter dem Ein­fluss von Wet­ter und Kli­ma, Boden und Land­schaft. Der Mann war Psy­chologe, Arzt, Jour­nal­ist und Poli­tik­er, kan­di­dierte 1925 bei der Reich­spräsi­den­ten­wahl für die lib­erale DDP, die Deutsche Demokratis­che Partei. Ohne Vater aufgewach­sen, sehen wir ihn wieder­holt als Knaben riesige Blu­men­sträuße pflück­en und den Frauen über­re­ichen, was wir seinen kaum mehr gele­se­nen und höch­stens noch anti­quar­isch erhältlichen Lebenserin­nerun­gen ent­nehmen können.

Was Hell­pach ausze­ich­nete und warum ich ihn erwähne, war sein Mut zu eigen­schöpferisch­er Begriffs­bil­dung; er machte sein eigenes Leben und Erleben zum Gegen­stand wis­senschaftlich­er Reflex­ion, wom­it er kein Einzelfall war, aber wie mit den Blu­men­sträußen ver­fuhr er auch hier: es sind Büch­er­sträuße, die er pro­duzierte, und er ist, ohne sich ein­er Rich­tung zuord­nen zu lassen, ein schöpferisch­er und sprachge­wandter The­o­retik­er gewe­sen, dessen geistige Span­nweite von ein­er panen­the­is­tis­chen Meta­physik bis zur Konzep­tion ein­er Pax Futu­ra für die Nachkriegszeit reichte – der Unter­ti­tel let­zter­er Schrift (aus 1949): Die Erziehung des friedlichen Men­schen durch eine kon­ser­v­a­tive Demokratie.

Wom­it ich bei einem Stich­wort bin, das mir gestern beim Spazieren einge­fall­en war und von dem ich dachte, dass es sich weit­er­en­twick­eln ließe: der „Über­forderungskon­ser­v­a­tive“. Also nicht der Struk­turkon­ser­v­a­tive oder Wertkon­ser­v­a­tive, son­dern der Über­forderungskon­ser­v­a­tive, der der Mit­men­schheit und dem Allleben prinzip­iell wohlwill, der aber ver­meintliche Selb­stläufer-Verän­derun­gen, die den Men­schen „tran­shu­man­isieren“, als Verzöger­er gegenüber­ste­ht; der es zum Beispiel unerträglich find­et, dass jeden Tag cir­ca 150 Tier- und Pflanzenarten ausster­ben, und der den Weltbe­stand erhal­ten will, wobei er hier­bei sich mehr als Gefühls­men­sch denn als Ratio­nal­ist und Rech­n­er erweist.

Freilaufende Karteileichen

Plakat

Der Vere­in hat mit den Jahrzehn­ten nun schon viele Ver­stor­bene aufzuweisen. Der Frischver­stor­be­nen wurde jährlich eigens in ein­er Gedenkminute gedacht, bei der sich die Anwe­senden erhoben. Es gebe auch Karteile­ichen, nominell noch Mit­glieder des Vere­ins, aber schon jahre­lang nicht mehr in Erschei­n­ung getreten. Möglicher­weise vere­len­det, der Vere­in dulde sie weit­er in seinen Rei­hen, wenn sie auch keinen Mit­glieds­beitrag zahlten. Ver­schwun­dene. Manche sind seit Jahren unauffind­bar. Verschollene!

Und bei einem Vere­in­str­e­f­fen – wir standen im Foy­er und tranken Wein – kamen zwei hagere, hochgewach­sene alte Gesellen here­in, ein­er mit Haken­nase, und pöbel­ten laut vor sich hin: „Wer früher stirbt, ist länger tot!“ Wie hat­ten sie sich hier­her verir­ren kön­nen? Wer waren sie?

Man munkelte, es seien möglicher­weise zwei Grün­dungsmit­glieder. Zwei von den sagen­haften, ver­schol­lenen. Die zwar durch nichts mehr weit­er her­vor­ge­treten waren, aber teil­hat­ten an der Grün­dungsle­gende, die die meis­ten nur, wenn über­haupt, bruch­stück­haft kannten.

So blick­ten wir mit ein­er Mis­chung aus Verärgerung und Ehrfurcht auf die bei­den alten Gesellen. Gehörten sie ein­er älteren Epoche unseres einst als anar­chisch ver­schrienen Vere­ins an, während wir Späteren den Vere­in ver­spießern ließen oder sel­ber schon als ver­hält­nis­mäßige Spießer in ihn aufgenom­men wor­den waren? Waren sie alte Autoritäten, die sich nichts mehr schissen, die uns ver­achteten und sich jet­zt betranken? Totgeglaubte?

Tot­geglaubte leben länger!“ – zur Probe rief ich den Satz in die Rich­tung der bei­den Abgeris­se­nen. Sie reagierten nicht oder stell­ten sich ein­fach taub.

Apro­pos „Abgeris­sene“: War nicht die Verbindung zu unseren Grün­dern auch „abgeris­sen“? Soll­ten diese dann nicht mit Abgeris­senheit darauf reagieren?

Wer war dieses Alt­män­ner­paar, das die Gläs­er bis oben füllte und tropfen­ver­schüt­tend schwang? Vere­in­sahn­her­ren oder zufäl­lige Halunken der Straße? Wie bei einem Begräb­nis, wo Leute auf­tauchen, bei denen man nicht weiß, ob sie zur Ver­wandtschaft gehören oder nicht, ob sie miteinzu­laden wären zum Leichen­schmaus? Manche Ver­wandte ken­nt man nicht, erst bei Begräb­nis­sen tauchen sie auf. Wir schä­men uns, erken­nen zu geben, sie nicht zu ken­nen. Also laden wir sie zum Leichen­schmaus ein, sicher­heit­shal­ber – und wären sie nur Schnor­rer, Kiebitze.

Da sagte auf ein­mal ein­er der Dis­tin­guiert­eren von unserem Vere­in recht unwirsch zu den bei­den alten Trunk­en­bold­en: „Ihr Trot­tel!“ Das wirk­te, sie ver­drück­ten sich. Aber immer weit­er ins Vere­in­shaus hinein, bis vor die Tür unseres Archivs.

Wir feiern nur SEINEN Siebziger“, so nun der Begleit­er des Hakennasigen.

ISKRA

Feuerschale

Es ist ver­rückt, ich füh­le mich ver­hangen, melan­cholisch, alternd wie sel­ten, und dann drückt mir ein Men­sch, der mir nicht ein­mal beson­ders gefällt, eine Zeitschrift DER FUNKE in die Hand. Ich gebe ihm die zwei Euro. Seinem Kom­pagnon, der mir ein paar Meter vorher bere­its das Blatt andrehen hat­te wollen, hat­te ich noch abgewunken.

Marx­is­tisch?“ Der junge Verkäufer bejahte.

Trotzk­ist?“, nun nick­te er.

Spar­tak­ist?“ Das kan­nte er nicht.

Ich ver­ab­schiedete mich mit geball­ter link­er Faust, dabei in dem wieder ein­set­zen­den Schnee­treiben mich fra­gend, ob nicht die rechte zu ballen wäre. Der Genosse ballte nicht zurück.

Als ich mit ihrer Zeitung wegge­he, ein­er Zeitung, die ich nicht lesen werde, spürte ich mich aber der­art belebt, dass ich es hier festhalte.

In meinem Ruck­sack mys­tis­che, auch melan­cholis­che Lit­er­atur, die Tage­büch­er León Bloys 1892–1917, Le Milieu divin von Teil­hard de Chardin, die Aufze­ich­nun­gen Eis heau­ton aus dem Nach­lass Oswald Spen­glers, wo er über die Trost­losigkeit sein­er Umge­bung schreibt, über die geistige Stumpfheit und Enge der Ange­höri­gen, die Res­o­nan­zlosigkeit während sein­er Schulzeit, das Verurteilt­sein zum Außen­seit­er­tum allein durch geistige Interessen.

Und dann noch ist in meinem Ruck­sack, der Teil meines geisti­gen Ver­dau­ungsap­pa­rates zu sein scheint, ein ganz komis­ches altes, vergilbtes Buch von Niko Kazantza­kis mit dem Titel Ret­tet Gott!, erschienen 1953 in einem Donau-Ver­lag mit dem soge­nan­nten Donauweibchen als Vignette. Darin heißt es: „Ich glaube an die hin­fäl­li­gen Masken ohne Zahl, die Gott im Laufe der Zeit­en angenom­men hat, und ich unter­schei­de in ihrer unaufhör­lichen und wan­del­baren Vergänglichkeit ihre unwan­del­bare Einheit.“

Es kostete mich Schamüber­win­dung, ein Buch mit dem Titel Ret­tet Gott! mir auszuleihen!

All diese Büch­er im Vorver­dau­ungstrakt meines Ruck­sacks, ganz in mich gekehrt, weil nun­mehr älter als Thomas Bern­hard gewor­den, entset­zlich, es ist schlech­ter­d­ings schreck­lich, wie man in den Rachen des Alters hinein­segelt, kamen also zwei Män­ner in einigem Abstand nacheinan­der auf mich zu, nein sprangen mich an, sie kamen herge­laufen, wie wenn sie ahn­ten, in mir sei Zun­der, um mir den Funken zu über­re­ichen, inmit­ten der vie­len Men­schen hat­ten sie nur mich angepeilt, dem Ersten hat­te ich noch abwinken kön­nen. Wie die Atten­täter von Sara­je­vo, die sich hin­tere­inan­der aufgestellt hat­ten, das Bild ist hochüber­trieben, aber man unter­hält als Ein­samer sich mit und in sich, jeden­falls sprang Der Funke dann im zweit­en Ver­such auf mich über und fuhr total ein, hat mich offen­bar ent­flam­men kön­nen, mich munter gemacht bis weit in die Nacht noch hinein, als ich zu Hause die mit­ge­bracht­en Büch­er anzule­sen begann.

Zwar ken­nt die Mys­tik ja das „See­len­fün­klein“ (Meis­ter Eck­hart), doch nicht den Funken ISKRA.

Die Büch­er, die ich an diesem Tag auswählte, scheinen in einem durch meinen Kopf arrang­ierten Zusam­men­hang zu ste­hen. Klappe ich das eine zu und schlage das näch­ste auf ein­er zufäl­li­gen Seite auf, liest es sich wie eine Fort­set­zung. Die Texte kor­re­spondieren. Bei Teil­hard de Chardin ent­decke ich am Grunde seines gesucht­en, erzwun­genen Opti­mis­mus eine tiefe Depres­sion. Diese finde ich bei Spen­gler wieder, dem das Schreiben an manchen Tagen so schw­er von der Hand ging, dass er sich für einen Nicht­skön­ner hielt: „Eine Seite wis­senschaftlichen Textes ruhig niederzuschreiben, bin ich nie imstande gewe­sen. Vielle­icht scheint mein Stil sehr ruhig, aber es scheint nur so. […] Es gehört eine gün­stige Stunde dazu, wo mich etwas packt, wo die Worte her­an­fliegen, wo sich die Sätze in die Fed­er drän­gen, ohne dass ich mir völ­lig ihres Zusam­men­hanges bewusst bin. Ich weiß nur, und mit in erster Gewis­sheit, dass sie richtig sind, so wie sie da entstehen.“

Der Ver­fass­er des Unter­gang des Abend­lan­des erlebte sich als schlecht­en, desul­torischen Arbeit­er, der sich mit Lek­türe in Stim­mung brin­gen musste, um den Funken auf sich über­sprin­gen zu spüren. In Phasen der Depres­sion jedoch verdüsterte sich sein Selb­st­bild bis zur Selb­stverken­nung: „Ich empfinde Ekel vor allem, was ich gemacht habe, vor mir selb­st, vor mein­er Unfähigkeit.“ Er muss sich eingeste­hen: „Ich benei­de jeden Men­schen, der arbeit­en kann, wann er will.“

León Bloy nehme ich zur Hand, weil er all die Genies und Geis­tes­größen kün­ftig in der Hölle brat­en sieht, sie jew­eils mit drastis­chen Bildern in einem Satz kennze­ich­nend. Über Stend­hal: „Geflügelte Toten­schädel über einem Schweine­herzen flat­ternd.“ Über Ernest Hel­lo: „Ein leer­er Sarg auf einem Gestell.“ Über Taine: „Ein von seinem eige­nen Bau erschla­gen­er Bau­un­ternehmer.“ Über Balzac: „Ein über­großes Auge, ein Auge, weit­er nichts…“ Über Ibsen: „Ein Goril­la, das Wort ‚Schick­sal‘ schreibend.“

Zu Napoleon ein­drucksvoll wie ein Bild­hauer, der das Wesentliche erschaut: „Napoleon wäre ohne Beresina und Water­loo ein Antlitz ohne Augen, ein unsag­bares Ungeheuer.“

So machen uns, wenn nichts anderes anschlüge, am Ende und im Rück­blick dann doch unsere Nieder­la­gen zu Menschen.

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