Petra Maria Kraxner

Petra Maria Kraxner

01.–07.04.2020

Fiktionales Journal aus Berlin: Verwende deine Zukunft

Der Auftrag

Regen. Im Innenhof blühen Narzissen. Die Linde noch kahl. Der Winter, der kein Winter ist, findet langsam ein Ende. Ich wickle mich aus der Wolldecke aus und schreite durch die Zweizimmeraltbauwohnung, von einer Ecke in die andere, räume hin und her und trage mit jedem Schritt das große ES hin und her und hin und her. Es: das Auftragswerk.

Ein Auftragstheatertext muss bis Ende des Jahres fertiggestellt werden und mir fällt und fällt nichts ein. Wie kann ich meine Gedanken in Schwung bringen, wie kann ich neue Verknüpfungen herstellen? Vieles, was mir bereits geraten wurde, habe ich versucht: Spaziergänge durch die naheliegenden Kleingärten, schnelles Gehen durch die Heide, QiGong (das ist schon ein paar Wochen her, als Kurse mit anderen Menschen noch besucht werden durften, im Wir-Gefühl den Glücksdrachen steigen lassen, und raus mit der negativen Energie, und es fließt und es wärmen sich die Hände, und die Gedanken?), intensives Lesen und Recherchieren. Doch: Mir fällt und fällt nichts ein.

In den Nachrichten Bilder von geschlossenen Grenzen und leeren Regalen, Hochrechnungen von Todesfällen, Sturmwarnungen und Waldbränden, Tierversuchen und Jaucheüberschuss, Börsenschwankungen und Bitcoin-Schürfern. Ich kann die Flut an Informationen nicht verarbeiten. Ich will die Nachrichten nicht verwenden. Warum nicht? Gründe, Gründe ohne Ende. Sie nicht auszuformulieren ist mein Privileg.

Der Aufhänger

Ich brainstorme mit mir selbst, was wirklich jämmerlich ist. Der grobe Aufhänger des Auftragswerkes: „Verwende deine Zukunft“. Vielleicht liegt es daran, dass ich mit dem Titel nichts mehr anfangen kann. Er ist, wenn ich länger darüber nachdenke, zu verkopft. Wer kriegt schon den Bogen hin: Verschwende deine Jugend. Verwende deine Jugend. Verschwende deine Zukunft. Verwende deine Zukunft. Nichts kann verwendet werden, was noch nicht ist. Oder doch? Das ist die Lücke, das ist die Kluft, die ich füllen muss, füllen könnte, füllen werden muss, bis Ende des Jahres. Abgabetermin ist der 20. November. Heute ist der 2. April. Noch keine Zeile habe ich geschrieben.

Verwende deine Jugend für die Zukunft. Verschwende deine Tage für kein Auftragswerk über die Verschwendung deiner Zukunft. 100 Seiten verschwenden und verwenden, indem ich einfach die Wörter des Aufhängers aneinanderreihe und wiederhole und umdrehe und dann trenne ich die Silben und bastle Laute daraus, einfach den Titel so lange verwenden bis ich in Zukunft, konkret am 20. November, ein Werk daraus schaffe und bis dahin meine Zeit damit verschwende, an nichts zu denken, nichts zu machen, denn das Werk hat sich mit diesem Konzept hier schon so gut wie geschrieben: 100 Seiten ver – wende – ver – schwende – wende – ende – Zukunft – u – u – meine – deine – ei – ei – und Feierabend.

Ich bin erleichtert. Falls mir gar nichts einfallen sollte, die nächsten Monate, wie mir schon in den vergangenen Monaten ja auch nichts eingefallen ist, dann ist dieser Einfall der Notfallplan. Dann wird es halt Lautpoesie, ausgedehnt auf ein abendfüllendes Theaterereignis.

Unter Strom

Jetzt bin ich doch nicht mehr erleichtert. Der Notfallplan ist keine Lösung. Tanz den Titel mit Lautpoesie durch die Nacht ver und ende und wende im Kreis – nichts womit ich mich selbst zufriedengeben kann. Vermutlich auch in Zukunft nicht. Ganz gewiss nicht, wenn ich länger darüber nachdenke.

Es ist ja nicht so, dass ich, trotz Bemühungen, trotz Scheitern, trotz erneutem Versuchen, trotz erneutem Scheitern, nicht weiterhin versuche, mit diesem Auftrag voranzukommen. Erst gestern wieder habe ich Zukunftsthemen und -technologien recherchiert, Fachliteratur über Zukunftsforschung gelesen, mich mit philosophischen Schriften und Fragen wie „Müssen wir ewig leben“ auseinandergesetzt; ich habe, nachdem ich Zukunftsszenarien der Energiewirtschaft studiert habe, meinen Stromanbieter gewechselt und beziehe jetzt 100 % echten Ökostrom von einem Energieversorger, dessen Claim „Energie mit Zukunft“ lautet. Jede Woche aufs Neue bin ich mit meinen Recherchemöglichkeiten gefühlt am Ende und womöglich bin ich das jetzt auch langsam wirklich. Irgendwann gibt es einfach nichts mehr, was ich über die Zukunft recherchieren könnte, falls es überhaupt möglich ist, über die Zukunft zu recherchieren, was ich ja mache und damit beweise, dennoch frage ich mich immer und immer wieder, ob es überhaupt Sinn ergibt, über die Zukunft zu recherchieren und es nicht besser wäre, ein Zukunftsszenario selbst zu erfinden, ganz ohne Recherche. Und überhaupt: Was bringen mir all die Informationen, wenn ich auch diese nicht verarbeiten kann, als wären es einfach nur weitere Nachrichten, die mich beschallen, die ich verwenden könnte, aber nicht verwenden möchte. Keine einzige Figur hat sich bisher aus dem Haufen an Wissen herauskristallisiert. Ganz zu schweigen von einer eigenen Sprache. Alles, was da ist, ist _ nichts.

Die Gruppe

Auch heute wieder keine Idee, wie ich diesen Auftrag bewältigen könnte. Mir ist klar: allein komme ich damit nicht klar. Ich brauche Hilfe. Nur woher? Ich brauche den Austausch mit anderen. Ich brauche eine Gruppe. Nur welche? In allen Gruppen, in denen ich bin, geht es ausschließlich darum, im Arbeitsprozess zu stehen. Keine Gruppe, die sich damit beschäftigt, im Arbeitsprozess nicht voranzukommen. Wer gibt das schon gerne zu? Und überhaupt sind Gruppen zu Zeiten des Kontaktverbotes schwierig. Treffen mit maximal 2 Personen. Eine Gruppe aus mir und noch wem. Das ist nicht genug. Fürs Erste muss eine Online-Gruppe her.

Ich tippe in die Suchmaschine „Kreative ohne Einfall“ und finde: „alle Lösungen für Ohne kreative Einfälle - CodyCross Spielcasino Das Wort beginnt mit I und hat 8 Buchstaben.“

Sollte ich ins Spielcasino gehen und dort meine Zukunft verwenden? Nein. Ich sollte, ich muss, ich werde eine Gruppe gründen. Und in der Gruppe gehen wir der Ideenlosigkeit auf den Grund. Also gründe ich eine Gruppe. Das ist dank Social Media schnell gemacht. Ich logge mich ein, erstelle eine neue Gruppe, fülle jedes Feld vorbildlich aus, stelle sie auf „öffentlich“, verknüpfe sie mit allem, was mir in die Quere kommt, lade all meine Kontakte ein, sich daran zu beteiligen und bitte um fleißiges Bewerben meiner neuen Gruppe. Kreative ohne Einfall – Gruppe mit Zukunft. Das könnte, nein, das muss, das wird groß werden. Oder auch nicht.

Kein Mitglied

Die Gruppe ist erstellt, fehlen nur noch die Mitglieder. Ich warte und warte und schaue aus dem Fenster. Im Innenhof nichts neues. Ich warte und warte und schaue aufs Display. Noch immer kein neues Mitglied. Doch: Ein Fenster hat sich geöffnet, eine neue Nachricht.

Kim*Chi: Alles OK bei dir?

Ich: Geht so, ich gründe gerade eine Gruppe.

Kim*Chi: Habe ich gesehen.

Ich: Gerne teilen und weiterempfehlen. Danke.

Kim*Chi: Wegen deines Auftragswerkes?

Ich: Ja. Immer noch keine Zeile.

Kim*Chi: Lass uns bald mal wieder spazieren gehen, ja?

Eigentlich habe ich keine Zeit mich mit Kim*Chi zu treffen. Es gibt so viel zu tun. Das erste Online-Treffen der Gruppe muss organisiert, eine erste Agenda konzipiert werden. Vielleicht könnte ich auch irgendwelche Kreativ-Coaches einladen … nein, so eine Gruppe soll das nicht werden, unsere Gruppe wird eine solide Selbsthilfegruppe. Von Menschen, die nicht im Stande sind, weder ihre Jugend noch ihre Zukunft zu verwenden, für Menschen, die nicht im Stande sind, weder ihre Jugend noch ihre Zukunft zu verwenden.

Poesie, wie ich sie brauche?

Rami: Ich habe nichts zu sagen und sage es und das ist Poesie …

Ich: John Cage. Kenne ich schon.

Rami: Wozu dann diese Gruppe?

Ich: Zum Austausch. Bist du dabei?

Rami: Schreib doch einfach drauf los, das hilft bei mir.

Ich: Nichts geht mehr bei mir, echt nicht.

Rami: Versuche es nochmal.

Ich: Trittst du der Gruppe bei?

Rami: Keine Zeit, muss bis EOW zwei Texte abgeben.

Ich: Okay, dann viel Erfolg dafür.

Rami: Danke. Und dir viel Erfolg mit der Gruppe.

Ich: THX.

Einfach drauflos schreiben, einfach rauslassen, einfach ins Fließen kommen, noch so ein Ratschlag, den ich bereits angenommen habe, aus dem nichts wurde, wie aus den anderen Ratschlägen auch, aber bald wird alles anders, bald habe ich meine Gruppe und die Dynamik wird sich positiv auswirken, wenn alles gut läuft, wenn endlich jemand meiner Gruppe beitritt. Statt neuer Mitglieder nur weitere Nachrichten meiner Freund*innen, meist beginnen sie mit der Frage: „Alles okay bei dir?“.

Zu zweit

Ana: Hahaha, Menschen, die nicht im Stande sind, weder ihre Jugend noch ihre Zukunft zu verwenden, deine Gruppe ist ja lustig, ist das dein Ernst?

Ich: Ja.

Ana: Du und kein Einfall? Kann ich mir nicht vorstellen.

Ich: Doch. Es ist schlimm. Wirklich schlimm dieses Mal.

Ana: Mach dir keinen Kopf, dir fällt doch immer was ein.

Ich: Hast du Lust der Gruppe beizutreten?

Ana: Wenn’s dich glücklich macht.

Ich: Ja.

Ana: Aber für so Orgakram hab ich keine Zeit.

Ich: Schon klar, das übernehme eh ich.

Ana ist der Gruppe „Künstler ohne Einfall“ beigetreten.

Ich schalte den Rechner aus und gehe hin und her und hin und her und trage mit jedem Schritt die neue Gruppe mit. Das alles, das wird, das wird. Zuerst finden wir uns online, und irgendwann, wenn wir mehr als zwei Mitglieder sind, wenn Treffen wieder möglich sind, sitzen wir zusammen im Café. Oder im Park. Das wird. Das wird. Wenn ich erstmal meine Gruppe gefunden habe, geht es los mit dem Text, mit der Verwendung meiner Zukunft.

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