Radek Knapp 01.–05.03.2021

Tirol Tagebuch

1 Tag

Neulich fragte mich jemand, ob es Sinn macht, Tage­buch zu führen. Das mache sehr wohl Sinn, antwortete ich. Es ist bekan­ntlich die wirk­sam­ste Waffe gegen die all­ge­meine Idi­otie, die unsere Spezies begleit­et, seit diese von den Bäu­men herun­tergestiegen ist. Man kann sog­ar eine Rech­nung auf­stellen: Je mehr Tage­büch­er geführt wer­den, umso klüger wird die Men­schheit. Lei­der ist man neulich stattdessen auf das Inter­net umgestiegen. Nicht, dass das nicht unin­ter­es­sant wäre, aber hätte uns das Inter­net klüger gemacht, hät­ten wir es längst gemerkt. Allein aus diesem Grund begab ich mich auf die Suche nach der augen­blick­lichen Dummheit und ziem­lich schnell war mir klar, dass die meiste Dummheit in der Poli­tik sitzt. Da hat man zwar zum Glück den Oberid­ioten der let­zten vier Jahre in den USA abgewählt, aber immer noch geis­tert seine Intel­li­genz durch den Äther. Als eine Jour­nal­istin Don­ald Trump vor einem Jahr fragte, ob er schon seinen IQ über­prüft hätte, schmatzte der Präsi­dent der USA zufrieden und sagte: Alles ok. Ich bin völ­lig gesund. Die Ärzte haben mich unter­sucht. Ich habe keinen IQ

Aber nicht nur in Ameri­ka bere­it­en Poli­tik­er einem Vergnü­gen. Sog­ar hier in Öster­re­ich wird auf allen Kanälen neulich ein Märchen gesendet unter dem roman­tis­chen Titel: „Der Kurz und sein Blümel“. Warum wohl? Der Bun­deskan­zler lässt sein Smart­phone prak­tisch nie aus der Hand. In so manchem Bürg­er steigt langsam der Ver­dacht auf, dass der Kan­zler selb­st von ein­er höheren Macht regiert werde. 

Am lieb­sten ist mir sowieso der pol­nis­che Vizem­i­nis­ter aus der momen­ta­nen Regierung PIS, die tra­di­tionell immer wieder große Geis­ter her­vor­bringt: Er hat­te in einem Anfall von wis­senschaftlichem Inter­esse neulich verkün­det: „Ich bevorzuge den Mond, denn er scheint in der Nacht, wo es dunkel ist. Die Sonne hinge­gen scheint am Tag, wo es sowieso hell ist.“

Zum Glück gibt es auch gute Nachricht­en. Und sie kom­men, welch Wun­der, nicht von Men­schen, son­dern von ein­er anderen Spezies. Auf­grund des Aus­bleibens von Touris­ten hat­ten endlich die Pan­das im Zoo von Hong Kong ungestört Sex. Das wurde schnell von den Medi­en aufge­grif­f­en und schon war wenig später rein zufäl­lig das Wort Pan­demie in aller Munde. Schließlich kommt es ja vom Pan­da, wie ein weit­eres poli­tis­ches Genie aus Indi­en seinen Land­sleuten via Nachricht­en verk­lick­ert hat­te. So weit so gut. Wir sehen uns mor­gen wieder. 

Tag 2

Die C‑Krise set­zt nicht nur Gast­wirten und Friseuren zu, son­dern auch Schrift­stellerkol­le­gen. Ich meine nicht finanziell, wir waren vorher auch schon im Keller. Aber neulich hat ein Kol­lege, der für seine San­ft­mut bekan­nt ist, die Ner­ven weggeschmis­sen und mir am Tele­fon einen Vor­trag über die Lage der momen­ta­nen Lit­er­atur in Öster­re­ich gehal­ten. In einem erstaunlich her­ben Ton informierte er mich zuerst über die „Lit­er­aten­gener­a­tio­nen“.  

Ich weiß nicht, was mich mehr ärg­ert, die Jun­gen oder die Alten. Ich glaube die Alten“, beschw­erte er sich. „Die liegen nur noch auf der faulen Haut. Schreiben immer den gle­ichen Scheiß und glauben, es ist Weltlit­er­atur. Dabei geben sie nur dem Wort Wieder­hol­ung nur eine neue Dimension.“

Dann ging er fließend zur jun­gen Lit­er­atur über: „Aber die Jun­gen sind auch nicht bess­er. Die haben ja nichts zu sagen, also graben sie in der Fam­i­lie irgen­deinen Nazionkel aus oder einen Groß­vater, der sich auf dem Bauern­hof im Stall erhängt hat, und los geht’s. Sie laden sich dieses fremde Unglück, weil sie ja sel­ber noch keins haben, auf den Rück­en und tra­gen es 300 Seit­en lang und wun­dern sich, dass sie keinen Nobel­preis kriegen.“

Bist du nicht ein wenig zu streng?“, gab ich zu bedenken, weil seine Stimme anf­ing, sich gefährlich zu über­schla­gen. „Im Gegen­teil, ich bin viel zu nett. Und die Migranten­lit­er­atur erst, immer die gle­iche Leier. Ein Asy­lant wird von allen ver­fol­gt, gedemütigt und lan­det unter der Brücke, wo er Migranten­trä­nen vergießt, die ihm irgen­deine Car­i­tas­blon­dine trock­net. Na wenig­stens kommt dort ein biss­chen Sex ins Spiel.“

Und was machst du jet­zt so angesichts dieser Katas­tro­phe?“, ver­suchte ich ihn abzu­lenken. „Ich schaue Net­flix“, antwortete er. „Dort ist die Dummheit wenig­stens offiziell“, er machte eine Pause, „aber lange halte ich das auch nicht mehr aus. Wie wäre es, wenn wir uns mal besaufen?“ 

Gerne“, sage ich. „Tre­f­fen wir uns unter ein­er Migranten­brücke oder vor der Albertina?“

Das ist scheiße­gal. Haupt­sache du bringst diesen guten pol­nis­chen Wod­ka mit, nach dem ich zwei Tage lang blind war und mir das Ganze nicht mehr anse­hen musste.“

Tag 3

Zeit zum Friseur zu gehen. Meine Haare sind so lang wie noch nie. Ich kön­nte mir sog­ar schon einen Pfer­de­schwanz machen. Nur lei­der graut es mir davor. Meine Nach­barin sagt, aber wieso kein Pfer­de­schwanz – dann sehen Sie wie ein Kün­stler aus. Ich bin the­o­retisch schon ein­er, ich muss nicht auch noch so ausse­hen, halte ich dage­gen. Beim Friseur ist es lustig. Meine Friseurin kommt aus dem Balkan, was ihr eine gewisse Lock­er­heit gibt, die den ein­heimis­chen Kol­le­gen abge­ht. Zum Beispiel macht sie keinen Fre­itest und ver­langt auch keinen von den Kun­den. Ich sitze also da und beobachte, wie das Haar ver­schwindet. Allerd­ings nur verdächtig auf ein­er Seite. Auf der andren sehe ich aus wie Pip­pi Langstrumpf, auf der neuen wie ein Jünger der FPÖ-Jugend. „Wollen Sie nicht auch die andere Seite schnei­den?“, werfe ich vor­sichtig ein. „Ach so“, erschrickt meine Friseuse. „Wie kon­nte ich das nur überse­hen“, sie schal­tet auf die andere Seite und macht mir ein Ver­söhungsange­bot: „Wollen Sie auch einen Whiskey? Ich habe eine Flasche zwis­chen den Sham­poos versteckt.“

Warum nicht?“, antworte ich und los geht’s. Mit jedem Schnips brauche ich ihn einen Schluck mehr. Am Ende kratzen wir irgend­wie die Kurve. Ich sehe aus wie ein pol­nis­ch­er Priester, oder ein­er sein­er Min­is­tran­ten. Alles bess­er als ein Kün­stler. „Wollen Sie noch ein biss­chen bleiben?“, fragt die Friseuse. „Kurt kommt gle­ich.“ Wer ist Kurt, frage ich. „OH Kurt ist toll“, lautet die Antwort. „Er sorgt für das seel­is­che Gleichgewicht.“

Naja, warum nicht. Ich bleibe. Der Whiskey funk­tion­iert inzwis­chen her­vor­ra­gend. Min­destens so wie Kurt. Aber dann wird’s ernst. Kurt kommt hinein. Braunge­bran­nt, Glatze und noch ein paar Attribute schw­er­ster Eso­terik. „Komm her, ich weiß, was dir fehlt“, sagt Kurt, obwohl er mich das erste Mal im Leben sieht. Wir gehen nach hin­ten, set­zen uns auf eine Bank und Kurt nimmt eine Art Taschen­lampe her­aus und leuchtet uns damit ins Gesicht. Gle­ichzeit­ig summt er etwas. Frischgeschoren und frisch­be­trunk­en lasse ich mich berieseln. Es ist Coro­na Time, tröste ich mich. Davon wirst du deinen Enkeln erzählen. Falls natür­lich welche kom­men. Zuerst auf die Welt und dann zu dir. „Fer­tig“, sagt Kurt. „Du bist geheilt.“ „Amen“, sage ich und schäme mich im sel­ben Moment. Dage­gen kann man nichts machen. Wenn man katholisch aufgewach­sen ist, tritt man immer wieder in das gle­iche Fettnäpfchen. 

Tag 4

Heute ist mir nach Lyrik. Die Prosa des Lebens hält nun mal nicht das, was sie mal ver­sprach, um es mal geistre­ich auszu­drück­en. Zum Glück sind zum Beispiel die Polen nicht nur gut im Skisprin­gen, son­dern auch im Gedicht­eschreiben. Ich selb­st bin ein mis­er­abler Dichter, wodurch ich mich nicht mit dem Ver­fassen von Gedicht­en pla­gen muss, son­dern mir gle­ich das greife, was mir gefällt. Und so habe ich mir zwei Gedichte zur Brust genom­men. Und zwar von Wis­lawa Szym­bors­ka aus einem Suhrkamp­band. Die Über­set­zung war aber ziem­lich schlecht, also über­set­zte ich sie extra jet­zt noch mal ins Deutsche: Das erste han­delt von Zeit­en, als unsere Spezies nichts zu lachen hat­te und trotz­dem irgend­wie mehr vom Leben hat­te. Wenn man es liest, wird alles gle­ich so angenehm ernst und wichtig. Und man fragt sich, warum kam ich nicht in der Steinzeit zur Welt. Hier der Beweis, bitteschön: 

Das kurze Leben unser­er Vor­fahren

Wenige wur­den dreißig
Das Alter war ein Priv­i­leg der Steine und Bäume
Die Kind­heit dauerte wie die Welpen­zeit der Wölfe
Man musste sich beeilen, mit dem Leben fer­tig­w­er­den
Bevor die Sonne unterge­ht,
Bevor der erste Schnee fällt

Dreizehn­jährige Kinderge­bärin­nen
Vier­jährige Fährten­such­er den Vogelnestern im Schilf
Ger­ade waren sie noch nicht da, schon sind sie weg
Die Enden der Unendlichkeit wuch­sen schnell zusam­men
Hex­en kaut­en Ver­wün­schun­gen
Noch mit allen Zäh­nen der Jugend
Unter dem Auge des Vaters wurde der Sohn zum Mann
Unter der Augen­höh­le des Groß­vaters wurde der Enkel geboren

Aber sie zählten sowieso keine Jahre
Sie zählten Net­ze, Töpfe, Wald­hüt­ten, Mess­er
Die Zeit so großzügig zu irgen­deinem Stern am Him­mel
Streck­te ihnen eine fast leere Hand ent­ge­gen
Und zog gle­ich zurück, als täte es ihr leid
Noch ein Schritt, noch zwei
Ent­lang des schim­mern­den Flusses
Der aus der Dunkel­heit kommt und in ihr verschwindet

Es gab keinen Augen­blick zu ver­lieren
Keine Fra­gen für später, und keine ver­späteten Erleuch­tun­gen
Sofern sie nicht gle­ich kamen.
Die Weisheit kon­nte nicht auf graue Haare warten
Sie mußte klar sehen, bevor die Klarheit kam
Und jede Stimme hören, bevor sie erklang

Das Gute und Böse
Sie wussten wenig darüber, und alles
Wenn das Böse siegt, ver­s­tummt das Gute
Wenn das Gute zum Vorschein kommt, lauert das Böse im Ver­steck
Das eine wie das andere ist nicht zu bezwingen

Daher wenn Freude, dann mit ein­er Brise Furcht
Wenn Verzwei­flung, dann nie ohne leise Hoff­nung
Das Leben, wie lang auch immer, wird immer kurz sein
Zu kurz, um etwas hinzuzufügen. 

Und hier ist das zweite Stück: Es ist eine Hymne an die pol­nis­che Frau bzw. an die Frau über­haupt. So oder so: Wir haben ein­deutig zu wenig Lyrik im Umlauf. 

Das Porträt ein­er Frau

Sie muss so sein wie man es will
Sich immer ändern, damit sich ja nichts ändert
Das ist ein­fach, unmöglich, schw­er, wert aus­pro­biert zu wer­den
Ihre Augen sind, wenns sein muss, mal blau, mal grau
Schwarz, lustig, grund­los voller Tränen

Sie schläft mit ihm wie die erst beste, wie die einzige auf der Welt
Gebärt ihm vier Kinder. Keine Kinder. Eins

Naiv, gibt ihm aber den besten Ratschlag
Schwach, erträgt es aber
Hat dafür im Moment keinen Kopf – dann wird sie ihn haben
liest Jaspers und Frauen­magazine
weiß nicht wozu diese Schraube und baut eine Brücke
Jung. Wie immer jung. Noch immer jung
Hält in der Hand einen Sper­ling mit gebroch­en­em Flügel
Eigenes Geld für eine weite und eine lange Reise
Ein Fleis­chmess­er, einen Kop­fum­schlag und ein Gläschen Wodka

Wohin läuft sie denn jet­zt, ist sie nicht müde?
Aber nein, nur ein biss­chen, schreck­lich, macht doch nichts
Entwed­er liebt sie ihn, oder ist nur stur
Aufs Gute komm raus und auch aufs Schlechte, um Him­mels Willen

Tag 5

Zum Schluss muss ich eines Mannes gedenken, den man viel zu wenig ken­nt. Und das, obwohl er sehr bekan­nt war und heuer 100 Jahre alt gewor­den wäre. Aber vor allem, weil er mir beige­bracht hat, dass Natür­lichkeit und Beschei­den­heit nicht unbe­d­ingt immer das Resul­tat gekon­nter Heuchelei sein muss. Sein Name ist Stanis­law Lem. Lem war sein­erzeit so berühmt, dass als er in Berlin einen Polizis­ten nach der Straße fragte, dieser ihm umge­hend den kürzesten Weg ans Ziel zeigte. „Aber dann müsste ich gegen die Ein­bahn fahren“, staunte Lem. Der Polizist fack­elte nicht lange und antwortete: „Kein Prob­lem. Sie dür­fen gegen die Ein­bahn fahren, Maestro.“ 

So viel Lit­er­aturken­nt­nis find­et man heute nicht mal unter Lit­er­aturkri­tik­ern. In meinem let­zten Buch (Zeitlu­pen­sym­phonien…) gab ich genau Auskun­ft, wie ich ihn ken­nen­gel­ernt hat­te. Es war in Wien und ich schneite als Heizungsableser zufäl­lig in seinem Haus vor­bei. Von da an wurde ich jeden Dien­stag zu Mit­tag ein­ge­laden, und durfte für ein paar Stun­den am Leben eines berühmten Mannes teil­nehmen. Ich habe sie alle als „Stern­stun­den“ fest­ge­hal­ten. Hier zum Abschied eine dieser Stern­stun­den, der ich bei­wohnen durfte: 

Hier spricht Richard Gere

Wir sind wieder ein­mal beim Dessert ange­langt. Es gibt Kom­pott mit Zwetschken aus Mae­stros Hiet­zinger Garten. Mit­ten­drin läutet das Tele­fon und Mae­stro hebt ab. Ein Anruf auf Englisch und offen­bar aus Hol­ly­wood. Ein Mann namens Richard Gere ist dran. Er möchte die Rechte für den Roman Solaris kaufen.
Lem jongliert mit dem Zwetschkenkom­pott in der einen und dem Hör­er in der anderen Hand. Er nickt wie ein Lehrer, dem ger­ade ein aufgeregter Schüler erzählt, dass er ein Stück Gold auf der Straße gefun­den hat. Dann antwortet er in seinem pol­nis­chen Englisch: „Ich freue mich, dass Sie die Rechte von Solaris kaufen wollen. Aber darf ich fra­gen, wer Sie sind?“
Am anderen Ende der Leitung herrscht plöt­zlich Toten­stille. Richard Gere hat die Frage nicht ver­standen.
„Ich bin Richard Gere“, wieder­holt er.
Lem wird daraufhin ungeduldig: „Sind Sie ein Pro­duzent oder ein Regis­seur?“
„Nein“, antwortet Richard Gere verun­sichert. „Eigentlich bin ich Schaus­piel­er.“
„Tat­säch­lich? Da grat­uliere ich aber“, sagt Mae­stro und legt auf. Dann kommt er wieder zurück an den Küchen­tisch, hebt das Kom­pott­glas in die Höhe und beschw­ert sich bei sein­er Ehe­frau: „Das Kom­pott ist heute irgend­wie nicht süß genug. Find­est du nicht?“
Ich schaue mit offen­em Mund von einem zum anderen und über­lege fieber­haft, wem ich das als erstes erzählen soll. Ich finde nie­man­den, der mir das glaubt.

Und ein großes Ciao an alle, die mir bis hier­her gefol­gt sind. Wir sehen uns hof­fentlich bald ana­log wieder!

hier geht’s zu allen Jour­nalen aus diesen Tagen