Raphaela Edelbauer 15.–19.03.2021

Erstens. Intention und Ernst. 

Was ich in diesem Jour­nal Tag für Tag aufs Neue vorschla­gen werde, ist ein grundle­gen­des Schis­ma. Es ist das näm­liche, das ich in mein­er Lit­er­atur täglich prak­tiziere; denn darum geht es ja hier – um die Unun­ter­schei­d­barkeit von Kör­p­er und Geist, von Bewe­gungs- und kün­st­lerisch­er Prax­is oder zumin­d­est der gegen­seit­i­gen Befruch­tung ihrer Method­olo­gien.
Das Schis­ma, von dem ich hier wie dort spreche, ist fol­gen­des: Wer Bewe­gung oder Lit­er­atur ern­sthaft prak­tiziert, muss gle­ichzeit­ig vol­lkom­men spielerisch sein wollen, unabläs­si­gen Exper­i­men­tier­willen ver­suchen – und es zum sel­ben Zeit­punkt todernst mit all dem meinen. Lassen Sie mich erk­lären.
Über den Gedanken der Inten­tion­al­ität von Bewe­gung stolperte ich zuallererst beim 80-jähri­gen(!) Stephen Jep­son, der mit einem Pro­gramm namens Nev­er leave the play­ground Men­schen ger­ade zu dem ermuti­gen will, was ich in meinem Ein­führung­s­text als das Offen­hal­ten der Türe beze­ich­nete: Neues ler­nen, in jedem Alter, an möglichst jedem Tag. Ins­beson­dere hörte ich ihn jedoch über eine Studie sprechen, die für mich noch ein­mal neues Licht auf den Charak­ter eben jenes Ler­nens warf.
Und zwar diese: Zehn Men­schen wur­den darum gebeten, inner­halb von drei Tagen jonglieren zu ler­nen. Nor­malverteil­ter­weise waren nach Ablauf dieser Zeit fünf in der Lage dazu, zwei exzel­lent, fünf gar nicht, zwei kon­nten nicht ein­mal einen Ball fan­gen. Als man jedoch in einem zweit­en Schritt ein Aktiv­itäts-MRT von allen anfer­tigte, war die erstaunliche Erken­nt­nis diese: Bei allen – fähig oder unfähig – hat­ten sich diesel­ben Adap­tio­nen ereignet, und bei jeder/jedem hat­te sich die Kapaz­ität in ver­wandten Auf­gaben zu per­for­men verbessert. Es war die Absicht die Bälle zu fan­gen, die Ern­sthaftigkeit der Inten­tion, die wesentlich wichtiger waren als der soge­nan­nte Erfolg. 

Zu spie­len (ein Konzept, über das ich in einem anderen Post­ing noch länger sprechen werde) und dieses Spie­len vol­lkom­men ernst zu meinen, sind nicht nur Gegen­teile, son­dern auch notwendi­ge Kom­ple­mente voneinan­der. (Etwa so wie Niels Bohr sagte: „Das Gegen­teil ein­er richti­gen Behaup­tung ist eine falsche Behaup­tung; aber das Gegen­teil ein­er tiefen Wahrheit kann wieder eine tiefe Wahrheit sein.“)
Manch­mal werde ich gefragt, wie ich es denn ernst meinen könne, „Weltlit­er­atur schreiben zu wollen“ (wie ich ein­mal leicht­fer­tiger­weise in einem Inter­view meinte). Meis­tens antworte ich dann, dass es für mich um etwas anderes geht: Wie muss ein Men­sch leben, der so etwas sagt? Muss ich denn nicht zunächst diese vie­len Bälle in die Luft wer­fen? Und ist nicht wichtiger als sie zu fan­gen, es in Tode­sernst zu ver­suchen? Um nicht mit einem so pathetis­chen Satz zu schließen, hier noch eine Anre­gung für ein ern­stes Spiel: Nehmen Sie sich eine/n Partner/in und stellen sie sich einan­der gegenüber. Ver­suchen sie nun die linke Schul­ter des/der anderen zu berühren, alle Bewe­gun­gen sind erlaubt. Ver­suchen sie auszuwe­ichen, sich zu drehen, ächzen und stöh­nen sie und tun sie so, als würde es um Leben und Tod gehen. Treten Sie gegeneinan­der an – aber miteinan­der; üben Sie Raumwahrnehmung, Schnel­ligkeit und Reak­tion für zehn Minuten – und staunen Sie den Rest des Tages über die Auswirkun­gen dieses ern­sten Unernstes. 

Zweitens. Neuroplastizität.

Neu­ro­plas­tiz­ität als solch­es ist die grund­sät­zliche Möglichkeit unseres Ner­ven­sys­tems (merke: nicht des Gehirns allein; vielmehr auch der Wirbel­säule, der Ner­ven und einiger Organe), Neu­ro­nen neu zu bele­gen. Diese Ner­ven­bah­nen bes­tim­men nicht nur unsere Bewe­gungsmuster und die Wahrnehmung der soge­nan­nten Wirk­lichkeit, son­dern auch gewisse Ver­hal­tens­dis­po­si­tio­nen und „geisti­gen“ Vorgänge. Plas­tisch sind wir deswe­gen auch vornehm­lich in der Kind­heit und im Teenager­al­ter – so plas­tisch zuweilen, dass bloßes Zuschauen tief­greifende Struk­turverän­derun­gen unseres Gehirns bewirken kann. Naturgemäß ver­fes­ti­gen sich diese Muster die darauf fol­gen­den Jahre zu Automa­tis­men, und zwar zu solchen, die sich auf die ein oder andere Weise bewährt haben. Bewährt heißt aber nicht immer richtig, denn manche dieser Reak­tio­nen entsprin­gen eingeübten Fehlhal­tun­gen: falschen Bewe­gun­gen, destruk­tiu­vem Ver­hal­ten, und je älter wir wer­den, desto sta­tis­ch­er, desto weniger ist es gehirn­phys­i­ol­o­gisch möglich, etwas an eben­je­nen zu ändern. Aber es gibt zum Glück einen Twist.
Und zwar funk­tion­iert das so: Die Möglichkeit zur Plas­tiz­ität ist grundle­gend mit zwei Din­gen verbunden: 

  1. Dem Bal­ance­or­gan im Innenohr 
  2. Dem Scheit­ern und Fehlermachen

Das ist das Erstaunliche: Dass die Möglichkeit jed­er Verän­derung unseres Ver­hal­tens (auf neu­ronaler Ebene, nicht ratio­naler) vor­rangig auf diesen bei­den Din­gen beruht.
Der Grund für diese Verbindung ist vere­in­facht gesagt die, dass wir eine innere Repräsen­ta­tion der äußeren Welt besitzen. Sagen wir dieser Wiese, auf der wir ger­ade ste­hen. Jed­er Schritt bringt zumeist eine Bestä­ti­gung dieser Repräsen­ta­tion, die der Sehsinn abgle­icht: ja, der Boden ist ger­ade so geneigt, so weich, wie wir es erwartet hät­ten etc.
Der Clou zur Neu­ro­plas­tiz­ität ist nun, diese bei­den Dinge in eine Diver­genz zu bringen: 

  1. Ste­he ich etwa auf ein­er wack­e­li­gen Fläche oder einem Gelän­der, so stre­it­et sich die visuelle Fes­tigkeit des Bilds (das Gelän­der selb­st oszil­liert ja nicht!) mit der emp­fun­de­nen Schwankung. Unser Ner­ven­sys­tem wird dazu angeregt, dass etwas verän­dert wer­den muss, dass etwas mit unser­er inneren Repräsen­ta­tion nicht stimmt: wir wer­den wieder plastisch. 
  2. Sel­biges gilt für Ver­fehlun­gen. Stelle ich mir etwa die Auf­gabe, einen Ball in einen Kübel zu wer­fen, so agiere ich der „inneren Karte“ entsprechend und werfe so weit, wie sie es vorgibt. Ver­fehle ich das Ziel dabei, so meldet das Feed­back erneut, dass es Zeit ist, die Neu­ro­nen der inter­nen Repräsen­ta­tion neu zu bele­gen. Inter­es­san­ter­weise hat die Forschung hier gezeigt, dass nur die gescheit­erten, nicht die geglück­ten Ver­suche plas­tiz­itäts­fordernd wirken. Man muss sich also etwas suchen, in dem man Anfänger ist. 

Ich empfehle hier für jene, die dieses The­ma inter­essiert, den Pod­cast des Stan­ford-Pro­fes­sors Andrew Huber­man, der zur Neu­ro­plas­tiz­ität forscht (https://podtail.com/de/podcast/huberman-lab/), aber für alle Eili­gen fasse ich hier kurz die Erstaunlichen Dinge zusam­men: Erstens, die errun­gene Neu­ro­plas­tiz­ität ist nicht allein für Bewe­gung förder­lich, son­dern für schlechthin ALLES. Wer etwa 20 Minuten bal­ancieren übt (vgl. Bild 1 für Inspi­ra­tion) lernt danach ekla­tant bess­er Sprachen – das Fen­ster ist etwa eine Stunde offen. Zweit­ens – je mehr man in der Auf­gabe scheit­ert, desto bess­er, denn desto größer die Diver­genz (vgl. Foto 2 für eine schnelle Frus­tra­tionsauf­gabe).
Das ist freilich das Gegen­teil von dem, was uns bil­dung­stech­nisch ver­mit­telt wird – nichts schlecht zu machen, diesel­ben Dinge zu tun, bis wir „gut darin sind“. Wie erfrischend, dass unser Kör­p­er uns ger­adewegs das Gegen­teil befiehlt – jeden Tag neuer­lich Anfänger zu sein, um die Tür nicht zuge­hen zu lassen. 

Drittens. Intensität.

Den Rud­er­sport ent­deck­te ich mit 22, als ich in ein­er Zeitung las, dass es der physisch anstren­gen­ste über­haupt sei – ein Liter Schweiß, 800 Kalo­rien, Gesichts­fel­daus­fälle in etwa sieben Minuten Ren­nen. Warum irgen­dein vernün­ftiger Men­sch das als Moti­va­tion nehmen sollte, dieses Höl­lenkom­man­do zu ver­suchen, muss man wohl nicht zu beant­worten ver­suchen.
Oder eben doch: Ich habe einen gesun­den Hunger nach Inten­sität. Von mein­er Aus­bil­dung im Sport­gym­na­si­um her, bin ich gewöh­nt, ein bis zwei Stun­den am Tag zu trainieren, sehr häu­fig ziel­gerichtet, das heißt wet­tkmap­fori­en­tiert. Ein wichtiger Lern­prozess war es dabei, die Indi­vid­u­al­ität des jew­eili­gen Kör­pers (in diesem Fall also meines) zu berück­sichti­gen – dass ich mich jahre­lang in Aushungerung zum Aus­dauer­lauf zwang, statt meine natür­lichen 73 Kilo in ein Boot zu set­zen – im Nach­hinein natür­lich die rein­ste Zeitver­schwen­dung. Aber das ist nur ein Neben­schau­platz – der Neben­schau­platz der Inten­sität. Warum ich glaube, dass neben ein­er generellen Bewe­gung­sprax­is, wie ich sie hier skizziere, auch die Spezial­isierung auf einen Sport, den man regelmäßig prak­tiziert essen­ziell ist, ist weil man allein in ihm fähig ist, Inten­sität und Aus­be­las­tung – ein Gehen an die Gren­zen – zu erre­ichen. Diese Gren­ze zu spüren, ist umso zen­traler, da wir gewisse Aspek­te des Men­sch­seins in unser­er nor­malen Leben­sprax­is sys­tem­a­tisch ver­nach­läs­si­gen. Einige dieser Aspek­te etwa wären: 

  1. Das Bedürf­nis nach kom­pet­i­tiv­en Bemühun­gen und Wet­tkampf.
    Sich zu messen und in Rela­tion zu anderen spüren zu ler­nen, während man in etwas bess­er wird, halte ich für einen vol­lkom­men selb­stver­ständlichen Impuls. Wie bei so vie­len natür­lichen Bedürfnis­sen bringt ein „Zivil­isieren“ des­sel­ben es nicht zum Ver­schwinden, son­dern ver­lagert es auf unpassende Gebi­ete: Die Wirtschaft etwa, das Einkom­men, zwis­chen­men­schliche Beziehun­gen oder Per­fek­tion­szwang im All­t­ag. Ohne hier allzu viel psy­chol­o­gisieren zu wollen, glaube ich, dass eine spielerische Kanal­isierung den meis­ten Men­schen hier in ein gutes Out­let bieten kann. 
  2. Inten­sität des Füh­lens.
    365 Tage im Jahr sitzen wir bei lauwarmer Gefühlsin­ten­sität in kli­ma­tisierten Räu­men und verzärteln unsere Kör­p­er, bis sie _ nach 20 Jahren ein­er solchen Behand­lung _ tat­säch­lich unter der kle­in­sten Belas­tung zusam­men­klap­pen. Was ver­loren geht, ist eine riesige, eingeeb­nete Gefühlspalette – eine riesige Grau­zone zwis­chen angenehm, nichtssagend und schmerzhaft, sowie das mit ihr ver­bun­dene Vok­ab­u­lar. Exis­ten­zielle Angst etwa oder Hunger, auf die wir kör­per­lich aus­gelegt sind, die aber durch eine end­lose Wohlfühldäm­mung ausgetilgt. 
  3. Kor­rek­tiv und intrin­sis­che Moti­va­tion
    Gut auszuse­hen, schlank zu sein, sich den Bedin­gun­gen der Gesellschaft zu unter­w­er­fen statt den unge­heuer­lichen Möglichkeit­en, dieses starken, resilien­ten Kör­pers, halte ich für schlecht­en Anreiz, und zumal einen solchen, der irgend­wann weg­bricht. Wir alle altern; sich in ober­fläch­lichen Prak­tiken einzu­nis­ten, ist ohne­hin nur von recht beschränk­ter Dauer. Aus mein­er Erfahrung ist es wesentlich effizien­ter, eine Prax­is zu find­en, die einem Spaß macht – sagen wir boul­dern – und den Kör­p­er adap­tierend zu einem guten Klet­ter­er wer­den zu lassen? Das ist deswe­gen so zielführend, weil man realen, benützbaren Kat­e­gorien denkt (Stärke, Dehn­barkeit, Kreativ­ität) statt in Gewicht und Kalo­rien und der Kör­p­er diesel­ben widerzus­piegeln beginnt. 


Rud­ern ist in jed­er dieser Hin­sicht­en meine große Liebe: Ein und dieselbe Bewe­gung, ein Leben lang per­fek­tion­iert unter stetig sich ändern­den Bedin­gun­gen an der Gren­ze mein­er Möglichkeit­en und inmit­ten der Gezeit­en. Vor allem aber ist es eine Möglichkeit, sich einen Pfad in die Möglichkeit­en der Lebendigkeit – des inten­siv emp­fun­de­nen Lebens zurückzuerkämpfen. 

Viertens. Spiel.

Dieser Tage – und sicher­lich bed­ingt durch diese eige­nar­tige Pan­demie, die alles Sys­tem­a­tis­che lah­mgelegt, alles Ziel­gerichtete gebremst hat – spiele ich, wie nie zuvor. Während es mir (in sportlich­er Hin­sicht) vor Coro­na zu wenig anstren­gend, zu unspez­i­fisch gewe­sen wäre, etwa einen Nach­mit­tag lange mit Anderen Ball zu spie­len, wird es zu ein­er immer häu­figeren Prax­is für mich, möglichst kom­plexe Szenar­ien zu entwer­fen. Ich tre­ffe etwa mit­tags Fre­unde und spiele für 30 Minuten Koor­di­na­tion­sspiele, werfe Körbe oder absolviere ein kurzes Spar­ring. Die Anforderun­gen an räum­liche Organ­i­sa­tion, Schnel­ligkeit und Unvorherge­se­hen­heit der Bewe­gun­gen sind unver­gle­ich­lich reich­haltig; nicht zu erwäh­nen den sozialen Zweck des Spiels, der eine ein­lädt, aus der Iso­la­tion in anti-neolib­erale, zweck­freie Erkun­dungsreisen zu tauchen.
Der Anthro­pologe Johan Huizin­ga ent­warf in seinem Essay Homo Ludens schon 1939 das Gegen­bild zum ziel­gerichtet wirk­enden Homo Faber. Huizin­ga rekon­stru­iert die Men­schheits­geschichte als kul­turell aus dem Spiel erwach­sen – und vielle­icht ist nicht ein­mal das weit genug gedacht; Spielver­hal­ten über­steigt die Spezies Men­sch; zieht sich quer durch alle Tier­arten. Es ist ein Erkun­den des eige­nen Kör­pers, und der Umwelt, und was sollte einen jemals dazu brin­gen, mit einem solchen Unter­fan­gen aufzuhören?
Ido Por­tal, der Begrün­der jen­er Move­ment-Cul­ture (www.idoportal.com), dem ich die Incents zu vie­len mein­er Bewe­gungs­gedanken ver­danke, gibt etwa fol­gende Tipps, um im Spie­len zu bleiben: 

Treat every­thing around as a poten­tial game, rid­dle and play * Take your­self far less seri­ous­ly * Don’t base your­self on win­ning, make sure you play cer­tain games even if los­ing will often be in the cards. Don’t avoid them. * Study ani­mals- they all play. How much? A lot! * Make sure you have the social sce­nario that facil­i­tates play, get off the over­ly seri­ous and uptight ass­es club, no mat­ter their ‘suc­cess’. Go to a climb­ing gym, mma dojo, move­ment stu­dio, park­our facil­i­ty, etc- if it’s too rit­u­al­is­tic, stern for no func­tion­al rea­son, iso­lat­ing or tra­di­tion­al for tra­di­tion sake, find anoth­er spot. *

Auch ich erlaube mir an dieser Stelle aus­nahm­sweise und im Gegen­satz zu meinen anderen Blo­gein­trä­gen, unge­wohnt prag­ma­tisch zu sein, weil das kon­se­quente Ver­ler­nen von Spiel­mustern und Bewe­gungskreativ­ität oft dazu führt, dass Men­schen mit ein paar Beispie­len sehr geholfen ist: In ange­hängtem Video habe ich einige Ideen für Spiele ange­hängt zu denen Sie nichts als sich selb­st und einen Ten­nis­ball brauchen. 

  1. Den Ball so fan­gen, als ob er zent­ner­schw­er wäre. In die Knie gehen. 
  2. Mit dem Ellen­bo­gen den Fang­punkt her­auszögern und – so schnell zuschla­gen wie möglich. 
  3. Anfänger: Mit der Hand­fläche den Ball so lange am Sprin­gen hal­ten, wie möglich. Fort­geschrit­ten: Das­selbe, nur mit den Füßen. 

Dass bei diesen Auf­gaben die Gren­zen zwis­chen Sport, Erprobung und Aus­druck fall­en, ist Teil ihrer Kom­plex­ität – dass sie wie Spiel erscheinen, Charak­ter­is­tikum ihrer Leichtigkeit. Oder, um es wieder mit Ido Por­tal zu sagen: Being play­ful over being successful. 

Fünftens. Routinen des Vergessens.

Als der Psy­chologe Alexan­der Luria zum ersten Mal seinem Patien­ten, der später unter der Abkürzung R. zu Wel­truhm gelan­gen würde, gegenüber­stand, traute er den Aufze­ich­nun­gen kaum: Der junge Mann, der zuvor noch für eine Moskauer Zeitung gear­beit­et hat­te, war ihm als ein Genie angekündigt wor­den, das ein exak­tes, niemals fehlge­hen­des Gedächt­nis habe. Ob Sym­phonie, ob gestalt­los­er Fleck, R. könne sich jahrzehn­te­lang jede Infor­ma­tion merken und sie repro­duzieren. Das Prob­lem seines Lebens aber war ein anderes: Er kon­nte nichts vergessen, und dieses Nichtvergessenkön­nen (für das Luria aller­lei Method­olo­gien erfind­en würde) block­ierte bald seine gesamten kog­ni­tiv­en Funk­tio­nen.
Wenn wir nachts, gegen die Mor­gen­stun­den hin, in den REM-Schlaf gelan­gen, in dem die Amyg­dala block­iert ist, und wir die Ereignisse des Tages noch ein­mal Revue passieren lassen kön­nen, nur ohne die sie beglei­t­en­den, aufkratzen­den Neu­ro­trans­mit­ter, passiert exakt das: Geschehnisse wer­den von den Emo­tio­nen entknüpft, wir durch­laufen eine Rou­tine des Vergessens.
Unserem Bil­dungs- und Sport­sys­tem sind solche Gedanken freilich fremd. Zu promi­nent ist das Mod­ell des omnipo­ten­ten Ler­nens, der Tugend, möglichst viel Kön­nen und Infor­ma­tion anzuhäufen, doch ignori­ert dieses Bild vol­lkom­men, dass die Haup­tauf­gabe des gesun­den Ver­standes ger­ade darin beste­ht, Unnützes auszu­sortieren, zwis­chen Wesentlichem und Unwesentlichem zu unter­schei­den.
Ich glaube, dass es im Schreiben wie im Bewe­gen zwei Prozesse gibt: Die Addi­tion – das Erler­nen neuer Strate­gien, die Aneig­nung, das Ent­deck­en neuer Gebi­ete –, und die Sub­trak­tion – das Weglassen unnötiger Bestandteile, das Hineinge­hen in bere­its bekan­nte Muster. Diese bei­den Dinge sind leicht zu ver­wech­seln, denn: lerne ich nicht eine gewisse Span­nung, eine bes­timmte Kraftverteilung, wenn ich etwa einen Hand­stand übe? Die Antwort lautet mein­er Ansicht nach nein. Vielmehr ist das Prob­lem, das einen zum Umfall­en bringt, dass unnötige Bewe­gun­gen gemacht wer­den und deswe­gen Energie aus der kinetis­chen Kette, die eigentlich „geschlossen“ sein sollte, entkommt. Eine Schwankung, eine kleine Drehung in der Hüfte – einen Hand­stand kön­nen heißt, wie im Aus­pack­en eines Geschenks immer mehr Hülle abzuziehen, bis etwas zum Vorschein kommt, was ohne­hin immer da war. Jede dieser Sub­trak­tio­nen wertschätzen und über­haupt wahrnehmen zu ler­nen, ist freilich nicht ein­fach. Zwei weit­ere Beispiele zur weit­eren Anschaulichkeit: 

  1. Wirk­lich wichtige Bewe­gun­gen – etwa zu gehen oder eine Rolle zu machen – wer­den neu­ro­phys­i­ol­o­gisch nicht erlernt, son­dern ein Kind bringt sie sich selb­st bei. Diese Bewe­gun­gen sind deswe­gen „da“, weil sie nicht im Gehirn, son­dern in der Wirbel­säule, gle­ich­sam als Reflexe und Korol­lar der Species Men­sch gelagert sind. Dass wir sie größ­ten­teils nicht mehr beherrschen, liegt daran, dass sie mit unsin­ni­gen Mustern (etwa dem Sitzen) über­lagert wer­den. Eine dieser Bewe­gun­gen, die man sich unbe­d­ingt zurücker­obern sollte, ist das Sitzen in Kniebeuge, das als natür­liche Rast­po­si­tion für aller­lei Funk­tio­nen des Kör­pers essen­ziell ist – für Ver­dau­ung, für die Hal­tung, die Funk­tion der Beine. In anfänglichen Por­tio­nen von 30 Sekun­den kann man sich etwa zu 10 Minuten täglich hocharbeiten. 
  2. Bei Tim­o­thy Shi­eff, einem hochdeko­ri­erten, britis­chen Park­ourmeis­ter, habe ich fol­gen­den Gedanken gele­sen: Sehe ich ein Gelän­der, so kann ich darin eine Struk­tur zum Fes­thal­ten sehen. Oder aber: Das was es noch sein kann (Vgl. Bild). Let­zteres ist – auch wenn es wie kindis­che Spiel­erei erscheint – viel näher an dem, was es eben wirk­lich ist, nur haben wir unseren Ver­stand so sehr mit den Imp­lika­tio­nen davon zugemüllt, was wir sehen soll­ten, dass davon alles verdeckt wird. Auch hier sind Prozesse der Sub­trak­tion anger­at­en: Was ist also ein Bein? Ist es ein Ding, das mich von a nach b trägt, oder kann ich damit sprin­gen, es streck­en, ziehen (und wie?) und es in ange­sproch­en­em Hand­stand als Bal­ance­tool verwenden? 

Eine ähn­liche Philoso­phie ver­folge ich auch bei meinen Unter­richt­skonzepten an der Ange­wandten: Natür­lich kann man Schreiben nie­man­dem beib­rin­gen; wir nehmen dort auch Stu­den­ten auf, die längst – auf die ein oder andere Art – schreiben kön­nen. Ich glaube also an eine Rou­tine des Vergessens; eine bewe­gungsin­spiri­erte Schreib­method­olo­gie, um zu ver­ste­hen, was Sprache noch sein kann.

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