Regina Hilber 01. – 05.02.2021

#Rettungsschwimmer_01
Über Alter Egos und Schaulaufen ohne Gaffer

Ansatz: Ver­lasse dich nicht auf einen Ret­tungss­chirm. Alter­na­tiv­en: Halte Auss­chau nach einem Ret­tungss­chwim­mer (deren gibt es niemals zwei), oder, noch effizien­ter, lerne zu schwim­men. Selt­sam, dass die Schreib­stube, die immer schon geprägt war von der Nicht­präsenz ander­er, in Pan­demiezeit­en automa­tisch zur Iso­la­tion­sstube mutiert, zumin­d­est Gefahr läuft, zur Iso­la­tion­sstube zu mutieren, obwohl ohne­hin des Schrift­stellers All­t­ag auch ohne Viren. Das ist das Ver­rück­teste am Lock­down: Das Gewohnte wird durch Pro­pa­gan­dasprech von außen zum Ungewöhn­lichen, Unge­woll­ten, Unabän­der­lichen deklar­i­ert. Gefahr! Gefahr! Dabei war das Eremiten-Aske­ten­tum stets intendiert. Außer, die Schrift­stel­lerin, der Schrift­steller, wird tem­porär als Schmuck­eremit von Sta­tion zu Sta­tion herumgere­icht. Lässt das gerne zu. Hier spießt sich das Gen­dern. Es ist mir unmöglich, die deutsche Sprache kün­stlich umzubasteln, sie zu zer­bröseln bis zur Unken­ntlichkeit. Im Moment kommt diese Schmuck­eremitin (Kom­pro­miss) gut ohne Gaffer aus. Umgekehrt hat das dur­chaus Fol­gen, wenn des Schrift­stellers eben­so täglich Brot, das Beobacht­en und Gaffen auf lange Zeit gekappt wird. “Schrift­steller neigen gat­tungsmäßig zum Gaffen…” schreibt David Fos­ter Wal­lace in seinem Essay Fernse­hen und Lit­er­atur in den USA. Schrift­steller neigen gat­tungsgemäß zum Gaffen, bin ich ver­sucht zu kor­rigieren, denn das Gaffen bezieht sich mein­er Mei­n­ung nach (gat­tungs­gemäß) auf die schrift­stel­lerische Spez­i­fi­ka der stets beobach­t­en­den (und ergo gaffend­en) Instanz. Liegt es an der Über­set­zung von der englis­chen in die deutsche Sprache, oder meinte der Autor tat­säch­lich neigen gat­tungsmäßig zum Gaffen? Gat­tungsmäßig ver­sus gat­tungs­gemäß — ich sitze ungeschützt der Dauer­reflex­ion auf. Draußen schwimmt so ein Ungetüm herum, es hat mein Wass­er noch nicht erre­icht. Still ist die See. Am Ufer der Wiener Donauin­sel erprobten sich die geprüften Ret­tungss­chwim­mer in ein­er Gen­er­alübung. Damals. Solange ein­er schwimmt, reicht das.

Schwimmer
Foto­cre­d­it: Regi­na Hilber © Bil­drecht Wien, 2021

#Rettungsschwimmer_02
Über Alter Egos und Schaulaufen ohne Gaffer

Im Teich ist viel Platz. Für Alter Egos aller Couleur, für kleine wie große Gedanken und windi­ge Proban­den. Bar­ney Cockles(s) (so hieß er wirk­lich) brachte keinen einzi­gen Satz zu Papi­er, der es Wert gewe­sen wäre veröf­fentlicht zu wer­den, was weit­er nicht schlimm gewe­sen wäre, hätte  nicht ein beson­der­er Umstand genau das Gegen­teil erfordert — einen einzi­gen Satz zu schreiben, der ihn davor bewahrt hätte, sich der Willkür ein­er höheren Instanz  auszuset­zen: „Ich erhebe Ein­spruch!“ Es wäre so ein­fach gewe­sen  und den­noch war Bar­ney nicht in der Lage, dies zur richti­gen Zeit, am richti­gen Ort niederzuschreiben. Er war abge­lenkt, bes­timmt, das auch, aber vor allem fehlte ihm die erforder­liche Energie, um auszuführen was der Moment, die bes­timmte Auf­gabe, verlangte. 

Bar­ney Cockles(s) hat­te schwere Depres­sio­nen. Er wusste, wenn er sich nicht mit einem Men­schen zusam­men­tat bevor der näch­ste Lock­down käme, er würde den darauf­fol­gen­den Früh­ling nicht mehr erleben. Also ging Bar­ney an einem let­zten Jän­nertag hin­aus, es war ein Null­grad­tag mit milchig grauem Him­mel und ein­er kraft­losen Sonne dahin­ter, weit, weit ent­fer­nt davon, hier durchzus­toßen. Für den Pelz war es zu warm, ander­er­seits hätte ein aufk­om­mender kalter Ost­wind schnell zu ein­er Verküh­lung führen kön­nen, also machte er an der Schwelle zur Haustüre noch ein­mal kehrt und warf sich das Ungetüm über (Achtung Auss­chwei­fung!). Ob es eine Straße war, auf die er hin­aus­trat, oder ein Platz, ein Land­strich, wir wis­sen es nicht genau. Wichtig ist einzig und allein die Tat­sache, dass Bar­neys Vorhaben von Glück gekrönt war, denn als er um neun Uhr fün­fzehn abends heimkehrte war er nicht mehr alleine, er führte Bar­bie Zoegerer, eine  Gele­gen­heitskell­ner­in (arbeit­s­los) und Halb­marathon­läuferin mit schiefer Nase und dün­nen Lip­pen an der Schul­ter fassend in sein Haus, nein Häuschen. 

Kopfsteinpflaster
Foto­cre­d­it: Regi­na Hilber © Bil­drecht Wien, 2021

Bar­ney Cockles(s) und Bar­bie Zoegerer waren kein schönes Paar. War­wn keun schienes paae. Die Autorin bräuchte drin­gend eine Lese­brille, schiebt einen Kauf ein­er solchen aber immer wieder auf. Nicht die richti­gen Buch­staben am Handy­dis­play erwis­cht, während unter­wegs in der U‑Bahn. Die Maske ver­hin­dert den freien Blick auf das untere Sicht­feld. Das Schreiben ist nicht immer, aber wenn es da ist, so über­all, ohne Rück­sicht auf die jew­eili­gen Beglei­tum­stände, Örtlichkeit­en oder Befind­lichkeit­en. Wo war der Ret­tungss­chwim­mer geblieben? Nicht aus­fransen, Spur halten. 

#Rettungsschwimmer_03
Über Alter Egos und Schaulaufen ohne Gaffer

Strassenlaternen
Foto­cre­d­it: Regi­na Hilber © Bil­drecht Wien, 2021

Bar­ney Cock­les hat­te gute Gene. Das ganze Dorf, oder die ganze Stadt, ein Bezirk, wussten davon und man kann sich vorstellen, dass der arme Kerl sehr unter Druck stand. Die Zusam­me­nar­beit zwis­chen Bar­ney und Bar­bie war weniger befruch­t­end als man annehmen hätte kön­nen, den­noch hat­ten sich die bei­den aneinan­der gewöh­nt und woll­ten, oder kon­nten nicht ohne den anderen auskom­men. Der Lock­down kön­nte zu diesem Zeit­punkt bere­its vorüber gewe­sen sein und die Notwendigkeit, die schlimm­ste Jahreszeit, ja, die Zeit über­haupt über­winden zu müssen, kön­nte ein­er Über­gangsphase gewichen sein. Dieses Detail spielt jedoch keine Rolle. Was war passiert? Bar­neys große Schwäche, kein Kerl sein zu kön­nen, wann er ein Kerl sein musste (wer forderte das über­haupt?), kon­nte selb­st durch die Zweisamkeit, durch die Stütze, die er sich in Bar­bie erhofft gehabt hat­te, nicht aus­ge­merzt werden.

Er war kein übler Bursche. Er war manch­mal ein­fach nur untätig. Diesen einzi­gen Satz  schreiben zu müssen hat­te ihm alles abver­langt, hat­te ihn über Wochen und Monate fortwährend um sich selb­st kreisen lassen, bis er schließlich vol­lends resig­nierte und als er sich mehr und mehr in diese auswe­glose Sit­u­a­tion hinein­manövri­ert hat­te, kam ihm schließlich doch noch Bar­bie zu Hil­fe mit ein­er nicht nur zün­den­den, son­dern ein­er ger­adezu for­mi­da­blen Idee: 

Sie wollte das Unver­mö­gen in ein Ver­mö­gen umwandeln!

#Rettungsschwimmer_04
Über Alter Egos und Schaulaufen ohne Gaffer

Schwimmer
Foto­cre­d­it: Regi­na Hilber © Bil­drecht Wien, 2021

Kopf­los. Kopf­los in kaltes Wass­er. Schwimmt da jemand im Teich? Bar­ney ist unter­ge­taucht. Bar­bie hat­te ihn ver­lassen. Sobald das Unver­mö­gen in ein Ver­mö­gen umge­wan­delt war, fehlte ihr die Auf­gabe. Im Rota­tion­sprinzip den Karteikarten­pa­ter­nos­ter anwer­fen. Das Blaulicht von draußen will nicht weichen, wirft seit Stun­den blink­ende Blauschat­ten auf des Nach­barn Fas­saden. On and off. On and off. Blaulicht in Stille. Rotlicht auch. Schluss mit Schaulaufen. Die neuen Vok­a­beln, die die Regierung seit Auftreten der Coro­n­akrise auf uns alle nieder­pras­seln lässt wie ein sint­flu­tar­tiger Karibikre­gen, wird sortiert und archiviert. Vom karibis­chen Feel­ing, die so ein Starkre­gen evoziert sind wir lei­der weit ent­fer­nt. Im Gegen­teil, das Dik­tat der Sprache hat seit nation­al­sozial­is­tis­chen Zeit­en keine so rig­orose Ein­wirkung auf unsere Gesellschaft gehabt, wie seit Beginn der Pan­demie vor elf Monaten.

Eher denke ich an sibirischen Schneere­gen, an Eiszeit­en. Wider­stand regt sich. Die Medi­en, die ein­mal auf diesen rasenden Zug aufge­sprun­gen, wollen von der Zwangsrhetorik nicht mehr ablassen. Warum auch? Es fährt sich gut auf Schiene, die wed­er großen Wider­stand, noch Gegen­verkehr ken­nt. Unter­schätzen wir nicht Struk­tur und Macht der Medi­en, die diese Botschaften samt coro­natauglichen Neol­o­gis­men unaufhalt­sam trans­portieren. Sämtliche Spin-Dok­toren vol­lziehen (zuvor noch als Schönred­ner inklu­sive Belich­tungs­gad­gets aus­ges­tat­tet) seit der Coro­na-Pan­demie eine glat­te 180°-Drehung, mutieren vom Schönred­ner zum Hard­core-Ansager inklu­sive Neo­vok­ab­u­lar. Weg mit dem guten Licht, her mit schwarz­er Pro­pa­gan­darhetorik. Den Spin-Dok­toren macht das Spaß. Rot ist der Ein­band von Alice B. Tok­las Kochbuch. Per Zufalls­gen­er­a­tor nachkochen wie vor hun­dert Jahren. Die Seit­en durch die Fin­ger laufen lassen und stop­pen. Aufschlagen:

            Fisch in Teig (spanisch)

So ste­ht es da. Wie passend.

#Rettungsschwimmer_05
Keine Frage? Keine Frage!

Arny, Barb und Urz wer­den auf des Schrift­stellers Plan gerufen. Willkür­lich wur­den und wer­den dem Alpha­bet einige Buch­staben entris­sen und so kommt es, dass aus Bar­ney Arny wurde und aus Bar­bie Barb. Sie wis­sen schon, Bar­ney Cockles(s) und Bar­bie Zoegerer aus der vorigen Geschichte. War ihre gemein­same Zeit doch frucht­bar­er gewe­sen als ursprünglich angenom­men? Wir wis­sen es nicht. Den­noch purzelt ein Urz aus dem Kon­glom­er­at der schreiben­den Instanz. Die rig­orose Stre­ichung macht auch vor Satzze­ichen nicht Halt. Frageze­ichen wer­den aus­nahm­s­los gestrichen und durch Rufeze­ichen erset­zt. Keine Frage? Keine Frage! Die Prokla­ma­tion, das Dik­tat führen Regie. Führen wir uns geord­net auf! Irgend­wie ruft es da per­ma­nent aus dem schmaler gewor­de­nen ABC her­aus. Arny und Barb passen sich an und auf sich auf. Urz war aus ihrer Kom­pen­sa­tion­shand­lung her­aus gewach­sen: Die Lück­en zwis­chen den einzel­nen Buch­staben des ABCs müssen gefüllt wer­den. Kom­pen­sieren Sie! Ja, Sie! Blasen Sie den Ret­tungsring auf und schwim­men Sie! Aber lassen Sie sich niemals dazu hin­reißen Buxstaben zu sagen anstatt Buch­staben! Das wäre des Alpha­bets nicht würdig!

Ziegelwand
Foto­cre­d­it: Regi­na Hilber © Bil­drecht Wien, 2021

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