Selma Mahlknecht 22.–26.02.2021

montag, 22. februar 2021

Maske

ich meiner mir mich

endlich: der ein­tritt der erwarteten
apoka­lypse der ersehn­ten aus­nahme
des erhofften zus­tands aufge­hobe­nen
lebens eines vor­läu­fig endgülti­gen
bruchs ein­er zäsur eines

nest: jet­zt sitze ich fest und
warm und spüre nur den stachel und flaum meines
ein­gerichtet­seins auf dem absteigen­den
oder jeden­falls wenn auch so weit
über allem anderen schwankenden

ich: vor allen spiegeln in allen schränken
alle schubladen und taschen sind voll
von mir ich löf­fle die
suppe aus die  mich einge­brockt hat und befrage den
teller sobald ich ihm auf den grund

aus­bruch: nur nach innen ins kochende
blut ins fleisch in dieses ent­täuschend
sta­bile gerüst der knochen die
hand auf dem nabel nimmt die  
morseze­ichen des doch noch pochenden

bericht: täglich unvoll­ständig aber
nie ohne den ton des staunens über
und des verzweifelns an und des  
hof­fens auf vor allem des hof­fens
auf denn was wäre ich ohne mein 

dienstag, 23. februar 2021

du deiner dir dich

sag, wo liegst du auf der lauer? was klingt
in deinen ohren nach? und welche
bilder von der welt trägst du
in deine sprache ein? 

was treibt dein inner­stes
zum äußer­sten? wo set­zt du
deine gren­zen neu? wie viele
stiche schließen deine wunden?

einst hielt dich dieser enge rah­men
und eine hand war dir genug
zum segen und zum fluch

jet­zt brüllt dein mund ins boden­lose
und jed­er fin­ger ist ein schrei
der sich ins uner­hörte krallt

mittwoch, 24. februar 2021

schmutziger schnee

er seiner ihm ihn

er ist der eine zu viel
im boot. es wird ken­tern.
seine spuren im bosnis­chen schlamm
im griechis­chen schnee sind
ver­wis­cht. war da was?

er stochert im dreck. und ist
sel­ber ein schand­fleck ein
ärg­er­nis eine bedro­hung für
unsere sicher­heit unsere
ruhe. weg damit.

sein platz ist beset­zt. er muss
draußen ver­röcheln. er zieht
seinen atem wie durch einen
stro­hhalm. es bleibt ihm kein hauch
für den abschied. was soll’s.

er ist alt. damit ist
alles gesagt: er ist fäl­lig.
er ist jung. ein hal­lo­dri.
ihm war es zu viel. er hat
schluss gemacht. bess­er so.

er ist der zahllosen überzäh­li­gen
ein­er. dass es ihn gab
ist ein gerücht. die men­schheit zwar
ist uns wertvoll und teuer.

ihn ver­mis­sen wir nicht.

donnerstag, 25. februar 2021

sie ihrer ihr sie

sie sei schon sehr gestresst. doch als noch alle
unen­twegt von den balko­nen klatscht­en, sei es
gewe­sen, als ob man sie auf hän­den trü-
„schatz, nicht jet­zt“, auf hän­den trüge,
beflügel­nd, qua­si stel­lvertre­tend für all die ausharren‑,
„ich sagte, nicht jet­zt“, jeden­falls, ja. ihr sei schon klar,
dass „einen moment, bitte, ich muss nur“, schon klar, dass, also
mit dem schutzanzug und so, es sei ein knochen-
„dann hol dir halt eins aus dem kühlschrank“, ein knochen­job,
und ihr vater sei noch dazu pflegebedürftig und habe doch
nie­man­den außer ihr, das sei schon aufrei‑, „eins!“,
also es sei schon „her­rgott nochmal, alles auf dem boden“, 

ähm.

also gestresst sei sie schon sehr. aber sie wisse ja, dass
andere, die weniger glück, wobei glück sei vielle­icht auch nicht,
obwohl doch, man könne schon von glück spre-
„lässt du bitte die katze raus?“, jeden­falls „wo war ich?“,
gestresst. sie wolle sich auch nicht darauf reduzieren lassen, aber
ihr leben derzeit laufe wie auf schie‑, „ich kann jet­zt nicht, siehst du doch“
zwis­chen arbeit und woh­nung und „kannst nicht du dein­er schwest­er helfen?“,
ihre kon­tak­te seien auch völ­lig eingeschla‑, „in der zweit­en schublade“,
es habe eben jed­er, und tre­f­fen könne man sich ja auch nicht und
dieses telefo‑, „warum ist die katze noch da? jet­zt hat sie aufs sofa
gekotzt!“, das schlimm­ste sei, dass man „oh gott“ nicht wisse, wie lange
„ich komm ja gle­ich“ das noch so weit­erge­he, sie halte das nicht mehr

ruhe!!“

freitag, 26. februar 2021

wir unser uns uns

hin­ter den bergen sind höhere berge
hin­ter den tagen zerdehnt sich die zeit
hin­ter dem schweigen ver­tieft sich die stille
hin­ter dem wir gäh­nt die ödnis zu zweit

sag mir und sei mir und bleib und ver­schwinde
hör mal erzähl mal ach gib und vergib
lass mich halt’s maul bitte nicht mach dich lock­er
has­st du mich hast du mich immer noch lieb

alles gesagt aber alles ver­wor­fen
kein weg hin­aus und auch kein­er zurück
haare und haut und die bluti­gen nägel
abschied in stück­en – und schließlich am stück

atem der still­ste­ht und blick in die leere
ein­er der du sagt und eine die schweigt
in seinen hän­den der abdruck der schreie
vorhang der fällt. licht das sich neigt. 

Anmerkung: Vom 1. Jan­u­ar bis zum 22. Feb­ru­ar wur­den in Ital­ien 10 Frauen von ihren (Ex-)Partnern ermordet. 

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