Tanja Raich

Autodrom

Tanja Raich

30.11.–05.12.2020

Landschaften bei Wien

30. November

Autodrom

Der letzte Tag im November. Die Bäume kahl. Ein Meer aus morschem Laub liegt an der Prater Hauptallee, versinkt im Morast, verwest allmählich, verschwindet. Die Kälte kriecht über die Haut. Der Nebel schleicht durch den Wald. Die Silhouetten der Krähen in den Baumkronen, sie blicken herab auf die unter ihnen, auf die Schweigsamen und Einsamen, auf die Zielstrebigen und Ausdauernden, auf die Versunkenen und Geschwätzigen, auf die Wenigen. Das Riesenrad steht still, seine Speichen glänzen im Licht. Die Waggons unbrauchbar geworden, niemand, der sie betritt. Kein Rattern. Keine Lichter. Der Geruch nach gebrannten Mandeln verflogen. Kein Tagada. Kein Autodrom. Das Karussell lässt seine Ketten hängen. Nichts hört man. Nichts dreht sich. Nur der Wind dreht die Blätter im Kreis, die noch nicht zerstampft und vergangen sind. Die Geisterbahn ist verschlossen, der Prater selbst zum Geist geworden. Das letzte Mal griff der Krieg hinein, aber das Rad hielt stand. Mitten im Schutt, nackt, aber aufrecht. Jahre später drehte es sich wieder – das leise Rattern und die Silhouetten der Menschen hinter den Fenstern – dreiundsiebzig Jahre lang. Dreht sich das Riesenrad, ist die Welt in Ordnung, dachte ich einmal, bis es tatsächlich stillstand. Aber die Welt war noch nie in Ordnung. Jetzt hat sie sich verlangsamt, sie dreht sich ächzend um die eigene Achse, erstarrt, kommt wieder zu Atem, schneller, dreht sich weiter, immer weiter. Wir spielen die Tänze nicht mehr, die Dissonanzen sind gelichtet.

* in Anlehnung an „Große Landschaft bei Wien“ von Ingeborg Bachmann

1. Dezember

Laub am Boden

Tief in den Wäldern des Praters verlieren sich die Wege. Die Äste liegen kreuz und quer, Baumstümpfe und morsche Stämme bieten Zuflucht für die Tiere des Waldes. Die Bäume strecken sich ins Licht, vom Wind so verwachsen, nach Körpern geformt, wie Wesen aus einer anderen Zeit. Abseits der Pfade, wo sich die Stimmen verlieren und sich so weit entfernen, als wäre da wirklich niemand mehr, öffnet sich eine Tür. Ich suche sie auf, immer wieder kehre ich dorthin zurück, ich trete ein und verschwinde. Sie führt mich weiter durch den Wald, die Landschaft verändert sich: Aus den Pappeln und Kastanien formen sich Palmen und Eisenholzbäume. Die Eichhörnchen färben sich grau, strecken ihre gestreiften Schwänze in die Höhe, wenn sie meine Schritte hören. In den Ästen raschelt und knackt es. Die Vögel sind aufgebrachter, pfeifen andere Melodien, aber die Krähen sitzen auch hier in den Baumkronen und beobachten mich. Ich höre das Rauschen des Meeres, ein Schlagen und Tosen. Der Geruch nach Zimt und Jasmin, nach feuchter Erde und Salz. Ich laufe durch die Wälder und suche nach den Geschichten, die ich verloren habe, die ich übersehen habe, suche die Geschichten, die ich vergessen, die ich missverstanden habe, ich versuche endlich zu begreifen und spinne neue Geschichten. Manchmal passiert das, wenn sich etwas verändert. Wenn sich etwas im Gebüsch bewegt, wenn sich die Wolken über die Sonne legen und alles verdunkeln. Ich gehe tiefer, immer weiter hinein, da bin nur noch ich, ein Wald und all die Bilder, die schon vor mir liegen, in Buchstaben gebändigt: schwarz auf weißem Untergrund, sie formen sich zu Sätzen, stapeln sich zu Hause auf weißem Papier. Die Fäden ziehen sich durch die Seiten, brechen ab, dann halte ich inne, gehe wieder auf die Suche, sie sind irgendwo in den Wäldern. Manchmal liegen sie im Kleinsten verborgen, in der unscheinbarsten Beobachtung. Manchmal ist es nur ein Blatt, das von einem Baum fällt.

2. Dezember

Fenster

Es gibt noch andere Türen. Der Blick nach draußen. Der Blick in die Fenster. Mein Blick verliert sich, verbindet sich mit der Erinnerung, wie viele Fenster habe ich schon gesehen? Wie viele Menschen habe ich in ihren Wohnungen beobachtet? In wie vielen Städten und Orten? Die Erinnerung verschwimmt mit der Fiktion. Die Fenster variieren, werden zu Möglichkeiten. Weit entfernt, ich kann nur noch Umrisse erkennen, sehe ich in das Wohnzimmer eines alten Mannes, der auf dem Sofa sitzt und ein Buch liest. Worüber liest er da? Vielleicht liest er ein Buch über den Mond, über verlorene Kinder, ein Buch über Viren oder die Geschichte eines Überlebenden, vielleicht liest er genau dieses Buch, das ich vor Jahren gelesen habe, von einem, der Geschichten erzählt und immer wieder von vorne beginnt, sie immer wieder von Neuem erzählt, und jedes Mal kommt etwas Neues hinzu. Er schaut nicht auf, ist in sein Buch vertieft. Ich sehe niemanden, der bei ihm ist, aber ich sehe nur diesen kleinen Ausschnitt, diesen Blick auf das Sofa im Wohnzimmer: Da sitzt ein alter Mann und liest ein Buch. Ich erinnere mich an die vielen Fenster. Bei Tag und bei Nacht. Schatten und Stimmen dahinter. Ich erinnere mich an einen Schauspieler, der ein Lied gehört, dann auf der Gitarre gespielt und gesungen hat, wochenlang dasselbe Lied. Immer wenn ich es höre, fällt er mir wieder ein, seine Silhouette hinter dem Fenster und die schiefen Töne, dieses grässliche Liebeslied. Ich erinnere mich an zwei Kinder, die auf dem Fensterbrett saßen und Wasserbomben in den verdreckten Innenhof warfen, während weiter oben jemand mit einer Steinschleuder auf die Tauben schoss. Ich erinnere mich an ein Paar, das ich jeden Tag zu Bett gehen sah, an der Wand ein Herz und ein Schriftzug auf Polnisch. Eines Tages ist er ausgezogen und sie lag allein mit dem Telefon im großen Doppelbett. Der Schriftzug an der Wand unverändert. Ich erinnere mich an eine Familie, die zu fünft im Bett lag, ein Knäuel aus Armen und Beinen. An so viele Familien in so vielen Städten, die an einem Tisch saßen oder auf dem Boden, im Bett lagen oder auf dem Sofa. An so viele Menschen vor dem Fernseher, hantierend in den Küchen, rauchend an den Fenstern. Es sind die alltäglichsten Handlungen, die sichtbar werden. Mit jedem Fenster öffnet sich eine neue Welt, öffnen sich Möglichkeiten und ganze Geschichten. Ich erinnere mich an eine alte Frau, wie sie vor dem Fernseher eingeschlafen ist, mit einem Buch auf dem Schoß. Von der Straße aus gesehen war es, als würde ich bei ihr im Wohnzimmer stehen. Fast hätte ich ihr das Buch aus der Hand nehmen und eine Decke über sie legen wollen. Der Mann bewegt sich nicht, er sitzt da und liest, es passiert nichts in diesem Raum. Da gibt es nur ihn und dieses Buch. Ein Fenster woandershin, ich werde nie wissen, wo es ihn hinführt. Es könnte ihn überall geben, diesen Mann: in Mumbai oder Colombo, in Neapel oder Tel Aviv, in Mexico City, Bangkok oder Kairo. Nach einem Spaziergang durch die Stadt, vorbei an den geschlossenen Restaurants und Bars, an den staubigen Schaufenstern, an den Leuchtschriften der Kinos vorbei, die Filme ankündigen, die nie gezeigt wurden, öffnet er wieder die Tür zu seiner Wohnung. Er legt seinen Mantel ab, vielleicht tritt er kurz ans Fenster, schaut über die Stadt in die Wohnungen der anderen hinein, setzt sich aufs Sofa und liest ein Buch.

3. Dezember

Neonschilder

In der Stadt die Leuchtschriften. Die meisten davon nutzlos geworden. Sie kündigen an, was verschlossen ist. Die Fledermaus in der Spiegelgasse. Das Blumengeschäft in den Tuchlauben, der Faschingsprinz auf der Taborstraße. Die Nelke am Volkertmarkt. Der Friseur. Der Uhrmacher. Die Susi Bar. Die Nachtlokale schon seit Monaten verstaubt. Manche Geschäfte und Gasthäuser für immer geschlossen. Manche renovieren, nehmen sich jetzt die Zeit für das, was lange schon fällig war, malen neu, tauschen aus, ziehen um. Manche reichen das Essen aus dem Fenster, schreiben Schilder, um auf sich aufmerksam zu machen: Der Chef ist da und kocht für dich alles, was du willst. Jetzt erinnern wir uns an diese Tage. Wir gleichen ab und ordnen ein. Wir erinnern uns an die Zeiten, die vergangen sind, die anders waren, leichter vielleicht. Viele sagen: Ich erinnere mich an die Zeit „davor“. Oder sie sagen: Weißt du noch? Erinnerst du dich? Wann werden wir endlich wieder … Wir erinnern uns an Momentaufnahmen, an ein vages Gefühl, an ein größeres Stück Freiheit. Der Wunsch, diese Tage wieder zurückzuholen, macht sich schon am Morgen breit und bleibt bis zum Abend. Könnten wir nicht noch einmal erleben, was wir all diese letzten Male erlebt haben? So viele letzte Male: eingefrorene Bilder, ein wenig verblasst, ein wenig zu grell, mit Sicherheit in anderen Farben, langsamer, in Zeitlupe oder schnell und verwackelt, verschwommen, als hätten sich mehrere Bilder, verschiedene Erinnerungen darüber gelegt. Die letzte Umarmung. Der letzte Kuss. Die letzte Berührung. Der letzte Atem auf den Wangen. Das letzte Mal über den Ozean geflogen. Das letzte Mal im Kino, im Literaturhaus, im Theater gesessen. Das letzte Mal die Hand der Großmutter gehalten. Das letzte Mal die Mutter in den Arm genommen. Das letzte Mal ausgeschwärmt in der Nacht, getanzt bis zum Morgen, Körper an Körper. Das letzte Mal eine Hand geschüttelt, einen Fremden geküsst, ohne nachzudenken, einfach gemacht. Das letzte Mal diese Leichtigkeit gespürt. Das letzte Mal Nähe statt Abstand gesucht. Die Welt ist ausgeblieben. Es gilt, mit dem Nachklang im Mund weiter zu gehen. Über der Brüstung im Park weht so einsam das Haar.

* in Anlehnung an „Große Landschaft bei Wien“ von Ingeborg Bachmann

4. Dezember

Baumkronen

Unter mir das Rascheln des Laubs, das Knacken der Äste. Der Geruch des Waldes, der Geruch des Winters. Die Bäume ziehen sich über mir zusammen, feine Linien, die sich zum Himmel strecken. Im Wald einzelne Gestalten, ein paar Stimmen, die wieder verstummen. Ein weißes Haarknäuel, ein Hund, der sich verlaufen hat. Er macht kehrt, als er mich sieht. Die anderen Tiere im Winterschlaf. Nur die Krähen sind aus der Ferne zu hören, die sind immer hier. Hin und wieder gibt es noch Sträucher mit einzelnen Blättern darauf, als würden sie sich mit aller Kraft festhalten, als wären sie noch nicht bereit für den Winter. Der Nebel macht die Sicht trübe. Alles ist braun und grau, mit grünen Flecken dazwischen, alles fällt langsam in sich zusammen, legt sich schlafen, schöpft Atem. Mitten im Wald finde ich einen Unterschlupf. Lange Äste in der Erde, zu einem spitzen Dach geformt. Sie geben Schutz und den Blick frei auf alles rundherum, auf die wenigen Gestalten, die durch den Wald wandern, ihre Ruhe suchen, auf das Blättermeer da draußen. Vielleicht ist sie das, die Festung, die ich gesucht habe, vielleicht bin ich jetzt ans Ende gekommen, habe den letzten Faden gefunden, der alles vereint. Ich gehe hinein, setze mich auf den Waldboden. Die Kälte unter mir, das Knarren der Baumstämme, die dem Wind nachgeben. Ich schaue hinaus durch die Äste, schaue hinein in den Wald. Ich halte den Atem an und da ist es schon, dieses Trommeln von weither, Schritte, die sich nähern und wieder entfernen, weit oben ein Schatten, der von einem zum nächsten Baum wandert. Da ist das Rauschen des Meeres, das Feuer am Horizont, da sind die Bilder, so viele Bilder, die sich übereinanderlegen, sich miteinander verbinden. Von hier schaut alles ganz einfach aus.

5. Dezember

Riesenrad

Das Riesenrad steht still. Jedes Mal, wenn ich daran vorbeigehe, steht es genauso still wie die Tage zuvor. Ist das ein Schatten, eine Stimme, ist das ein Pferd dort oben, auf dem höchsten Waggon? Bewegt sich da etwas hinter den Fenstern? Die Krähen fliegen über das Gerüst, landen auf den Speichen. Ein Raunen geht durch den Park, ein leises Surren, ein Rauschen. Das Klappern der Rollläden, ein Ächzen im Wind. Der Klang der Stimmen erhebt sich, ebbt wieder ab. Geister der Ebene, Geister des wachsenden Stroms, zu unserem Ende gerufen, haltet nicht vor der Stadt! Wir spielen die Tänze nicht mehr, aber woher dieses Lied? Durch Staub und Wolkenspreu zeichnen sich Melodien ab, weit über dem Riesenrad flirren sie im Dunkeln, voller Dissonanzen. Ich sage mich los von der Zeit. Ein Geist unter Geistern.

* in Anlehnung an „Große Landschaft bei Wien“ von Ingeborg Bachmann

Literaturhaus am Inn – Lieben, Sprechen, Fühlen, Genießen
Josef-Hirn-Straße 5
6020 Innsbruck

Newsletter abonnieren

Mit dem Klick auf „Abonnieren“ erklären Sie sich mit unseren Richtlinien zum Datenschutz einverstanden.

Programmheft bestellen

Vereinsmitgliedschaft

Anmeldung ausfüllen

Gefördert von

Universität InnsbruckStadt InnsbruckBundesministerium Kunst, Kultur, öffentlicher Dienst und SportLand Tirol
crossmenuchevron-up