Karin Peschka

Karin Peschka

07.–13.12.2020

7. Dezember: Tiere, Sterne, Satelliten

Eingeschneiter Strauch

Nicht unweit unserer Wohnung hausen Ratten, oder hausten, denn man hat Gift ausgelegt, in einer schwarzen Box mit halbrunder Öffnung, groß genug für die Ratten, zu klein für Hunde, Katzen und Igel. Oder Hasen, auch Hasen sieht man in der Gegend manchmal, und Kaninchen, davon gibt es eine ganze Population. An anderen Stellen Wiens noch mehr. Sie dezimieren sich von selbst, heißt es, durch eine Kaninchenkrankheit oder -seuche.

In warmen Sommernächten verließen wir oft unseren Platz auf der Couch, verließen also unseren Bau und gingen in den nahen Park, in der Stunde vor Mitternacht oder später. Wir legten die Köpfe in den Nacken und wollten UFOs sichten, wollten gern dran glauben, dass es sie gibt. Die Bänke im Park sehen zwar so aus, sind aber nicht aus Metall, sondern aus Zementfaser, die das Vorhandene speichert, Wärme und Kälte.

Vor wenigen Tagen stand ich dort, wo wir im Sommer saßen (über uns blinkte es und blinkten doch nur Sterne und Satelliten), balancierte auf einem Bein und presste mir die turnbeschuhte Ferse des anderen ins Gesäß. Ich habe nach Jahren der Abstinenz das Laufen wieder aufgenommen. Dehne den Körper so gut es geht, vor mir parallel versetzte Wasserflächen, Streifen mit Schilf, im Sommer sang darin die gefährdete Wechselkröte (man war angehalten, sie nicht zu stören). Es war früh dunkel geworden, ich dachte nach, wo und wie die Kröten überwintern; eine Fledermaus löste sich vom Baum, sehr schnell war sie, pfeilte in elegantem Bogen über die Wasseroberfläche, zurück blieben winzige Wellen. Ich nehme an, sie hatte Durst.

Nach den Ratten will ich sehen, aber dazu braucht es Licht. Ihre Wohnungen sind unseren Wohnhäusern im Aufbau nicht unähnlich. Sie leben in rechteckigen Betonnischen, die, in mehreren langen Zeilen übereinanderliegend, die Basis einer Lärmschutzwand bilden, dahinter das Brausen des Verkehrs, davor eine Grünfläche, die zum Gehsteig hin schmäler wird, aber in der anderen Richtung Platz genug bietet für Bänke, Bäume und einen Fußballkäfig. Jedesmal, wenn ich vorbeiging, blieb ich stehen und zählte. Ich sah: Da graues Fell, dort eine Bewegung, immer mehr. Kleine, große, dicke. An guten Tagen waren es bis zu zwanzig.

Dann kam die Box. Heute stand ich, wartete lange und sah nur eine einzige Ratte. Das, was ich für eine zweite hielt, war eine Taube, die sich in einer der verwaisten Nischen zu schaffen machte. Ich weiß nicht, warum ich davon spreche. Es geht mir nicht aus dem Kopf.

8. Dezember: Gebenedeit, vermaledeit

Religiöses gemälde
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Sieben lange Jahre hatten die Sträucher keine Rosen getragen. Deren plötzliches Erblühen wird, so heißt es im Adventlied, durch Maria ausgelöst, die schwanger durch den Dornwald ging. Es läge nahe, das florale Wunder allein ihrer Leibesfrucht zuzuschreiben, dem späteren Erlöser und Auslöser von Kreuzzügen, Hexenverbrennungen und anderer, bis in die Gegenwart reichender Grausamkeiten. Sofern es Jesus tatsächlich gab – weder bin ich Theologin noch Historikerin –, kann man davon ausgehen, dass diese Begleiterscheinungen des Christentums ebensowenig seine Intention waren, wie die bauliche Großartigkeit von Kirchen und die Männer-Dominanz in hohen Ämtern.

Adolf Holl (was für ein Glück, ihm begegnet zu sein) schrieb viele Bücher, darunter „Der letzte Christ“1. Dieses Buch hat mir geholfen, Distanz zu wahren und gleichzeitig die allgegenwärtige Sehnsucht nach Erlösung besser nachempfinden zu können. Ich hätte es gern zur Hand genommen, aber es steht in meinem Eferdinger Arbeitszimmer im Regal, und ich bin in Wien.

Zurück zum Dornwald, durch den wir im allegorischen Sinn auch wandern. Mit „wir“ ist die ganze Welt gemeint, ein Umstand, der im Zeitalter des Seuchennationalismus besonders gerne übersehen wird.

Maria, die im Rosenkranz als „gebenedeit“ Angebetete, war ohne Makel empfangen worden, ohne Erbsünde. Sie wurde „im ersten Augenblick ihrer Empfängnis durch ein einzigartiges Gnadengeschenk und Vorrecht des allmächtigen Gottes (…) rein von jedem Makel der Erbschuld bewahrt.“ Und trat somit im „Zustand der heiligmachenden Gnade“ ins Leben, eine für ihre vorbestimmte Rolle wesentliche Qualifikation.2

Als Kind einem Kinderglauben anhängend, war ich stets ob des heutigen Feiertags verwirrt. Die Zeitspanne zwischen Empfängnis und Geburt (vulgo Christkind) schien mir sehr knapp bemessen. Später, durch Religionsunterricht und Jungschar-Aktivität informiert, hielt ich den 8. Dezember für den Tag, an dem, nein, nicht Maria durch den Dornwald ging, sondern Anna und Joachim, ihre Eltern, Geschlechtsverkehr hatten.

Nun weiß ich: Am heutigen Tag wird der Unbefleckten Empfängnis gedacht, weil Papst Pius IX am 8. Dezember 1854 durch eine Bulle das oben zitierte Dogma verkündete.

Ich fand es an der Zeit, zumindest zur Entwirrung der Tagesbedeutung beizutragen, wo doch genug Unklarheit herrscht in der Stadt und in der Welt.

Nachtrag: Bleibt zu überlegen, ob bei einer befleckten Empfängnis nicht ein Rest Erbschuld der Muttergottes nur den halben Dornwald zum Blühen gebracht hätte. Oder ein Drittel. Oder hätten Disteln geblüht an Stelle der Rosen? Die sind ja auch sehr schön.

1 Adolf Holl „Der letzte Christ. Franz von Assisi.“ DVA, Stuttgart 1979
2 siehe http://www.kathpedia.com/index.php/Unbefleckte_Empfängnis

Bild: Ausschnitt aus „Bartolomé Esteban Murillo: Immaculate Conception of El Escorial“ (Public domain, via Wikimedia Commons)

9. Dezember: Über die Müdigkeit

Farbmarkierungen

Von einem Spaziergang heimgekommen, der nicht nur über befestigte Wege führte, beschloss ich, meine Schuhe zu putzen. Sie sind relativ neu, so neu, dass ich kürzlich gefragt wurde, ob ich am letzten Tag vor dem Lockdown noch schnell beim Humanic gewesen wäre. Nein, an jenem Montag Anfang November wartete ich vor einem Wollgeschäft in der Reihe netter Frauen, die nacheinander das Geschäft betraten. (Eine raus, die nächste rein, denn nur vier Kundinnen durften gleichzeitig und so weiter.)

 Irgendwo haben wir Schuhputzzeug; in dem zuständigen Körbchen fand sich allerlei schon lang nicht mehr Beachtetes. Wie die farblose Schuhcreme in der gelben Tube, obenauf ein graues Polier-Schwämmchen. Nachdem ich den ärgsten Schmutz mit einem Tuch entfernt hatte, drückte ich etwas Creme auf das schwarze Leder, wollte sie mit Hilfe des Schwämmchens verteilen – statt dessen verteilte sich dieses über Schuh und Boden. Ich betrachtete die gelbe Tube und fand: Sie sah sehr müde aus ohne ihren Schwammkopf.

Materialermüdung, wohin man schaut. Ich rede nicht von Sollbruchstellen und eingeplanter Obsoleszenz, wodurch ein Gerät nach einer vorbestimmten Zeit den Geist aufgibt, nicht repariert werden kann, sondern nachgekauft werden soll, um die Wirtschaft anzukurbeln. Die Wirtschaft nämlich erschöpft sich nie.

Ich meine das Müdesein an sich, das einer und einem jederzeit begegnet. Gerade an nass-kalten Tagen. Da fallen die morschen Schichten, die sich von Holzverschlägen lösen, besonders auf. Die rostigen Stellen, der ewige Dreck auf den Waschbetonplatten vor den Altglascontainern. Immer hängt irgendwo ein verlassenes Fahrrad schief an einem Zaun, eines der Räder fehlt, das andere ist verbogen, der Sattel gestohlen. An allen Ecken und Enden liegen einzelne Fäustlinge, verlorene Schals, Schnuller und weggeworfener Mundnasenschutz.

Die Autos, die vor dem Fenster parken, hintereinander auf der einen Seite, schräg auf der gegenüberliegenden, sind mit welken Blättern übersät, die Menschen, die in sie einsteigen, halten die Köpfe gesenkt. Ich seh ihnen beim Aus- und Einparken zu und stelle fest: Das Aussteigen wird hinausgezögert; das Hinaussteigen in die kalte Luft bedeutet, sich dem zähgrauen Himmel auszuliefern.

Manchmal aber, wenn jemand sein Auto zügig in die Parklücke lenkt und sich im nächsten Moment mit großen Schritten flott entfernt, im Weggehen und ohne sich umzudrehen die Türen versperrt. (Der typische Ton, die Blinklichter leuchten.) Dann möchte ich das Fenster aufreißen und ihm nachrufen: Sei nicht so selbstgerecht!

Wie gut, dass ich zu müde bin. Hier stehend, mit der nackten gelben Tube in der Hand, Brösel vom Schwämmchen am Pulloverärmel: Ich könnte nicht erklären, was ich damit meine.

10. Dezember: Fernsicht, Nahsicht

Ei aufschlagen

Jeden Dezember um diese Zeit schreibe ich Maurine. Ich erzähle ihr von den vergangenen Monaten, berichte, wie es uns geht, wünsche ihr im Namen aller, die sie kennen, frohe Weihnachten und stecke den Brief in eine schöne Karte. Dazu kommt ein Foto, heuer das von meinem Sohn und mir beim Champagnertrinken.

Die Adresse kann ich fast auswendig, nur den ZIP-Code der kleinen Stadt im Süden der USA merke ich mir nicht und muss, jedes Jahr erneut, Maurines Visitenkarte suchen. Während ich mit schwarzem Stift das Kuvert beschrifte, habe ich ihr kleines blassgelbes Haus vor Augen. Ich sehe die Palmen, das dicke Gras, die weiße Zufahrt, den Rosenstrauch, das Fliegengitter bei der Tür. Ich höre das TikTikTik der Wassersprenger, und wenn am tiefblauen Himmel ein Raubvogel kreist, Maurines PussPussPuss, weil, wo ist die Katze?

Vom Postamt zurück überlege ich, ob sie mir die Wahrheit sagen würde, wenn sie Probleme hätte. Einsam wäre, in finanziellen Schwierigkeiten. Krank? Charlie, Maurines Mann, hatte einen Anker auf seinem linken Arm, ein verblasstes, verwischtes Tattoo, das ich zuletzt vor mehr als sieben Jahren sah. Mittlerweile lebt Maurine allein und Charlie ist Erinnerung. Ob sich immer noch jeden Morgen Sherman, der Hund und Miss Puss, die Katze, zum Frühstück einfinden und darauf warten, von der Fingerspitze ihrer Mommy Butter schlecken zu dürfen? Ich mache mir Sorgen. (Ist es arrogant, sich im Leben anderer für wichtig zu halten?)

Maurine ist eingebettet in ihre Community, hat Freundschaften, Seilschaften, die sich um sie kümmern. Aber jetzt, in Zeiten der Pandemie? Ich räume den Schreibtisch auf, lege Karten und Kuverts zurück in ihre Schachtel.

Greifbarer, erreichbarer, weil im Verhältnis zu Florida gleich ums Eck, leben unsere Eltern. „Pass auf“, sagt mein Vater, wenn ich ihn anrufe und um Rat frage. Etwa, weil ich mitten im Kochen nicht mehr sicher bin, ob der Fisch vor oder nach dem Anbraten mit Zitrone beträufelt werden soll. Oder welches Mehl besser ist, wie lange ein Teig rasten muss und ob er dieses oder jenes Gewürz bevorzugen würde.

Wobei: Salz, Pfeffer, Kümmel, Muskat. Das und ein paar Kräuter, viel mehr braucht die gute Küche nicht. Meint der Chef. Der alte Wirt. Mit seiner Wirtin. Ich sehe den Marillenbaum im Vorgarten, die Beete in Winterruhe, den steinernen Grander, ich sehe meine Mutter mir im Sommer Blumen zeigen, die wachsen, obwohl sie dort, wo sie wachsen, von ihr gar nicht gepflanzt wurden. (Schau, wie schön die sind, sagt sie.) Ich sehe hinter dem Küchenfenster meinen Vater stehen und mit Pfannen hantieren, weiß, wie er Zwiebel schneidet, Champignons, Schnittlauch, wie er Eier, Milch und Mehl versprudelt, habe ihn tausendmal dabei beobachtet, weil mein Vater, Jahrgang 1933, das alles seit jeher getan hat und auch heute tun wird, am zehnten Dezember, seinem Geburtstag, der unbedingt zu feiern ist.

11. Dezember: Wohnung putzen (für L.)

Einhorn

An Freitagen putze ich die Wohnung, vorausgesetzt, ich bin allein. Das Alleinsein ist wichtig; das Putzen folgt einem ritualisierten Ablauf, der durch die Anwesenheit einer weiteren Person gestört werden könnte.

Das Ritual geht so: Zuerst bringe ich meinen Schreibtisch in Ordnung. Liegt wenig Papier herum, wird sortiert, weggeworfen, abgeheftet oder in die Ablage gelegt. Übersteigt die Zettelwirtschaft ein gewisses Maß, stopfe ich alles in die blaue Einhorn-Tasche, die zu diesem Zweck bereitsteht und beileibe nicht immer leer ist. Der Drehstuhl wird so platziert, dass er mit den Rädern auf der Fensterbank und mit der Rückenlehne auf der Chaiselounge liegt, gemeinsam mit losem Kleinzeugs.

Ich habe den Abwasch gemacht und beginne in der Küche mit dem Abstauben. Gegen den Uhrzeigersinn, von der Mikrowelle über das Regal zum Herd. Alles, was an beweglichen Teilen herumsteht, kommt ins Vorzimmer (Barhocker, Bartwisch, Türstopper, großer Mistkübel). Im Wohnzimmer wechsle ich mit dem Staubwedel in der Hand direkt zum Bücherregal. Der Computerschrank daneben wird von einer massiven Trophäe beschwert, ich habe sie 2015 beim Alpha-Literatur-Preis gewonnen. (In Gedanken erlaube ich mir das Wortspiel, schon wieder einen Preis abzustauben.) Ich arbeite mich quer durchs Zimmer, hebe den Couchtisch vom Teppich, übersehe regelmäßig die einsame rote Christbaumkugel, die ganzjährig in einem Gesteck aus grünen Zweigen hängt, dafür nie den alten Leseraben, der dem Bücherregal gegenüber auf einem Wandbord sitzt.

Es geht flott voran, einiges wird feucht gereinigt. Mein Schreibtisch ist weiß, die Bleistiftstriche, die ihm im Lauf der Woche zugefügt wurden, lassen sich ausradieren. Sobald alle Räume vom Staub befreit sind, kippe ich die Fenster und putze im Vor- und Badezimmer die Spiegel sowie die äußeren Wände der Duschkabine.

Jetzt kommt der Knüppel aus dem Sack, nein, der Staubsauger aus seinem Versteck. Ich sauge im Badezimmer, dann in der Küche, auch unter der Anrichte und in den Spalten zwischen den Kästen. Dazu entferne ich den Bürstenkopf. Im Wohnzimmer sauge ich den Teppich, grün und hochflorig, stelle den Couchtisch zurück, wo er hingehört, sauge den Rest der Wohnung, mit Ausnahme des halben Wohn- und des ganzen Vorzimmers, da sich dort noch Mobilien aufhalten.

In einen Kübel mit sehr heißem Wasser gebe ich etwas Putzmittel (es ist gelb, aber die Flasche bald leer) und beginne mit dem Bodenwischen. Der Luftzug der geöffneten Fenster sorgt dafür, dass Parkett und Fliesen schnell trocknen und ich somit die restlichen Möbel zur Seite rücken kann, zum Beispiel vom Vorzimmer in die Küche, oder die Esstisch-Stühle in die bereits gereinigte Wohnzimmerhälfte.

Abschließend sauge und wische ich den nunmehr leeren Restboden, warte fernsehend auf der Couch, bis alles trocken ist. Ich räume die Sachen wieder auf ihren Platz und habe Ordnung in der Wohnung und ja, auch im Kopf.

(Um Fragen vorzubeugen: Die weitere Person übernimmt ihre Aufgaben, ich übernehme meine.)

12. Dezember: Ob die Wände heute senkrecht stehen?

Handabdruck auf Steinwand

Jetzt, wo die Wohnung sauber ist und die Gedanken geordnet, können wir wieder unsere kleinen Kreise ziehen, denn: Die Mexikokirche hockt schön an der Donau, der Stephansdom steinert im Zentrum herum, und die Türme der Votivkirche sind so zugig, dass die Luft durchsaust wie nix. Der sechste Tag, so wurde ich belehrt, ist der siebte, der Samstag jener, an dem Gott sich ausruhte oder den Menschen schuf oder in das Himmelszelt nieste, auf dass es zu glitzern beginnen möge durch Myriaden hingerotzter Sterne.

Was mich an den Mann im Supermarkt erinnert; ich braves Kind war gestern schon einkaufen, habe die Vorratskammern gefüllt, ein Kalb zerlegt, zwei Gänse geschlachtet, drei Tauben gebraten und vier schillernde Forellen zum Räuchern in den Kamin gehängt. Außerdem die Kartoffeln im Sand vergraben, damit sie länger halten. Als die Kartoffeln noch in ihren Netzen lagen und diese im Einkaufswagen, den ich durch die Gänge schob, nieste ein Mann heftig und mehrmals kurz hintereinander. Dann war es still, abgesehen von der Kaufhausmusik und dem Disput eines greisen Ehepaares. Das sich uneins war, Grün-, Rosen- oder Spitzkohl? Der Streit endete mit dem Satz: „Du isst es eh nicht.“ Oder so: „Du musst es eh nicht essen.“ Im Gang nebenan (Gewürze, Essig und Öl) die nächste Niessalve, eindeutig männlich. Wobei.

Jetzt hab ich mich tatsächlich ablenken lassen vom Kreiseziehen um samstägliche Kirchen. In irgendeiner hängen winzige Vampire im Chorgebälk, verkehrt herum natürlich, die kalten Händchen über der steifen Brust gekreuzt, die Augen geschlossen und Fangzähne bohren sich in blasse Lippen, allerdings nur im Halbschlaf. Im Tiefschlaf geschieht es ab und zu, dass einer den Halt verliert und abstürzt. Was Flecken auf dem Kirchenboden macht, sehr hilfreiche Flecken, denn die Gottlosen hausen nur in von Gott verlassenen Gotteshäusern, und so kann man diese von den unverlassenen leichter unterscheiden.

Ist das der Grund, warum man den Blick gesenkt halten soll? Als Kind war meiner immer oben im Kreuzgewölbe, bei den dicken Engeln, die nur Kopf und Flügel waren, und bei den Augen der Heiligen, mehr weiß als Iris und Pupille, weil himmelwärts gedreht, wohin sonst. Vorne hat der Dechant/Pfarrer/Priester geredet, auch damals konnte ich dem Gepredige nicht folgen, wie später dem Lehrpersonal sämtlicher Schulen und allen Vortragenden in allen Konferenzen und Sitzungen, die ich besucht habe oder besuchen musste. Jemand redet drei Sätze am Stück, und ich bin weg. Wo?

Vielleicht bei den kleinen Kreisen, die sich zwischen Kirchen so wunderbar ziehen lassen. Man muss nix reden, man kann viel sehen, die Gedanken weichen mühelos herabfallenden Vampiren aus, wie Mücken um Regentropfen herumtanzen. Und wenn doch einer zu träge ist und erwischt wird, ist es auch egal.

Nachtrag: „Nicht nur für Jugendliche, auch für viele Erwachsene, ist nichts unbehaglicher als ein gesellschaftlicher Hiatus, eine Periode unstrukturierter Zeit, in der alle Anwesenden schweigen und keinem etwas Besseres einfällt, als etwa zu fragen: ‚Glauben Sie nicht auch, dass die Wände heute Abend senkrecht stehen?‘“ (Eric Berne, „Spiele der Erwachsenen“, erstmals 1964 erschienen unter dem Titel „Games People Play: The Psychology of Human Relationship“. In einer Auflage aus dem Jahr 2012 findet sich die oben zitierte Stelle auf Seite 20, das habe ich ergoogelt, meine eigene Ausgabe ist in Eferding. Ich nehme an, das Zitat findet sich dort ebenfalls auf Seite 20. Die zentrale Frage hört sich im Englischen übrigens noch viel schöner an: “Don't you think the walls are perpendicular tonight?“)

13. Dezember: Nichts von Belang

KP_7_1 Plastikchamäleon

Wochenrückschau. Über Ratten habe ich geschrieben, über Ufos und Sterne, Adolf Holl kam vor und Maria im Dornwald, ein verlassenes Fahrrad, verlorene Schnuller, müdes Material an grauen Tagen. Salz, Pfeffer, Muskat, dickes Gras vor einem blass-gelben Haus, Blumen, die wachsen dürfen. Bartwisch und Leserabe. Vampire, die im Tiefschlaf auf Kirchenböden fallen.

Heute ist Sonntag. Ich lege die Beine auf den Tisch und denke nach. Ich lege auch die Fakten auf den Tisch und erkenne, dass sich im Journal nichts Tagesaktuelles findet, obwohl es im Titel „aus diesen Tagen“ trägt. Als gäbe es kein pandemisches Geschehen, keinen Populismus, wo Politik sein sollte, kein Trennmesser namens „Solidarität“, keine Verachtung von Zuständen der Unsicherheit, keine Menschen, die im Dreck verrecken, überall auf der Welt, vor den Toren Europa, an dessen Rand und in seiner Mitte. Als wäre es möglich, diese Schuld abzuwälzen.

Wie sich ein Chamäleon über Zweige bewegt, so bewege ich mich durch die Zeit. Durch diese Zeit. Zögerlich einen Arm vorstreckend, sehr langsam den Ast greifend, die Augenkegel skeptisch und unabhängig voneinander in alle Richtungen drehend. Wär schön, das zu können. Ein Leben in Slowmotion. Ich würde in einem Terrarium hocken, von roter Höhensonne gewärmt, mit künstlichem Regen beregnet. An langen Pinzetten reicht man mir Heimchen, an Feiertagen Nachtfalter. Geduldig, weil ich zuerst die Erkenntnis gewinnen muss, was da vor mir zuckt und zappelt. Bevor ich mich entschließe. Dann geht es schnell, dann ist flott gegessen. Und ebenso flott wieder erstarrt. Geschaut. Gezögert.

Ich habe gehört von einem britischen Zoo, dort lebt ein Chamäleonmann, dem ein Weibchen zugeführt wurde, aus Frankreich importiert. Zum Zweck der Vergesellschaftung und Reproduktion. Das Männchen wechselte die Farben, näherte sich dem Weibchen an, saß täglich ein Stück näher und nach einer Woche tatsächlich neben ihm. Als es am nächsten Tag den Krallenarm um die Braut legen wollte, war diese tot vom Baum gefallen. Die Pflegerin gab zu bedenken, dass sie nicht glaube, das Männchen würde unter dem Verlust leiden. Sehr wahrscheinlich habe es sich nur über den schnellen Abgang gewundert. Monate später kam das zweite Weibchen, die Schwester des ersten. Dass es schön stämmig und kräftig sei, wurde extra hervorgehoben. Man startete einen neuen Versuch.

Wie es weiterging, weiß ich nicht. Ich war müde geworden und schaltete den Fernseher aus. Mein Fatalismus ist ein dünner Polster, auf dem es sich im Allgemeinen gut schlafen lässt. Nur: Gerade ist nichts allgemein.

Die Woche ist vorbei, um ein Haar hätte ich mein Innerstes preisgegeben. Ich drehe die Kegel meiner Chamaläonaugen und seh nach, wer rechts vorne steht und wer links hinter mir.

Literaturhaus am Inn – Lieben, Sprechen, Fühlen, Genießen
Josef-Hirn-Straße 5
6020 Innsbruck

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